Die Lust der Begleitung im Mitschwingen

Schriftliches Interview mit dem Musiktherapeuten Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt

 

therapie kreativ: Wie kamen Sie selbst zur Musiktherapie?

Decker-Voigt: Sie kam zu mir. Ich wollte - ausbildungsmäßig - nie gezielt Musiktherapeut werden. Aber: Ich war 13 Jahre meiner Kindheit krank, lag we­gen Kinderlähmung und Tbc elend lange im Bett - und fühlte mich gar nicht elend: Meine Mutter sang mehr mit mir als dass sie mit mir sprach, desgleichen sechs Onkel und Tanten und die Großeltern und die vielen anderen, die ein gro­ßes Pfarrhaus nach 1945 bevölkerten. Mir wurden Klanggeschichten erzählt mit Stimme, Flöten und Percussion-Instrumenten aus der Küche und - wenn mal keiner da war - machte ich mir selbst mein Musiktheater. Meistens aber waren es musikalische „Rollenspiele“ aus Märchen und Phantasie. Als ich schließlich im Bett stehen konnte, wurde das Klavier meiner Urgroßmutter an die Seite gerollt und ich eroberte es - improvisierend. Erst später als „Studierter“.

Heute weiß ich, was ich damals fühlte: Dass diese Basiserfahrung von Einge­engtsein durch Krankheit und Freiheitserfahrung durch Musik und Spiel eine, wenn nicht die größte Ressource meines und eines Lebens ist. Nach Musikstudi­um und Pädagogik kam später die Psychotherapie-Qualifizierung mit entspre­chenden Veröffentlichungen. Aufgrund derer fragte man mich, ob ich nicht hauptamtlich für die damaligen Anfänge der Musiktherapie arbeiten wolle.

therapie kreativ: Wie unterscheiden Sie Musikpädagogik von Musiktherapie?

Decker-Voigt: Meine Kürzestfassung: Musikpädagogik, besonders Musikun­terricht, bedeutet musikalische Gestaltungsmöglichkeit, der der Mensch dient. Musiktherapie bedeutet, dass die musikalische Gestaltungsmöglichkeit dem Men­schen zum Ausdruck seiner selbst, seines Selbst dient.

Etwas ausführlicher: In Musikpädagogik und -unterricht (und den bot ich sehr gerne an als Musikschullehrer, als Schulleiter, als PH-Lehrbeauftragter) wer­den die Anlagen des Menschen, seine kreativen Gaben, seine Begabungen auf Musik hin organisiert und auf Musik als Kunst hin begleitet und entwickelt. Mehr oder weniger unterrichtlich, d. h. immer auch informationsorientiert. Es ist immer noch selten wenn auch erfreulich zunehmend, dass ein Musikpädagoge seine/n SchülerIn fragt, wie diese/r emotional auf die gehörte oder gespielte Mu­sik reagiere, wie diese Musik sich an-fühlt für ihn/sie, was sie mit ihm/ihr macht. Musikpädagogik ist — und muss im professionellen Bereich auch sein — immer noch ein Ort, an dem ein Mensch Musik nach vorgegebenen Regeln und Struk­turen kennen lernt. Ob in der gehörten oder gespielten Musik.

In der Musiktherapie werden die Bausteine und Strukturen der Musik auf die Persönlichkeitsentwicklung des belasteten und zu entlastenden Menschen bezo­gen, organisiert und der Mensch begleitet. Dabei hört und spielt der Mensch (PatientIn) aus sich heraus (aktive Musiktherapie). „Aus der Seele gespielte“ Mu­sik findet ihren Ausdruck in der improvisierten Musik, die immer auch Spiegel von Befindlichkeit, Sehnsüchten und abgespaltenen Teilen der Person ist. Die Dynamik der Psyche der improvisierenden Person per-soniert im buchstäblichen Sinne (personare = lat. hindurchtönen). Alles, was da tönt, mittönt, nicht tönt (auch im Sprechen des Menschen, der in der Musiktherapie ist) gilt es im thera­peutischen Gespräch und/oder in der musikalischen Mitgestaltung des Therapeu­ten oder der Therapeutin aufzufangen und zu begleiten, zu verändern.

Dasselbe, die völlige Orientierung des musikalischen Geschehens an der Per­son, gilt in der rezeptiven Musiktherapie, wenn für den Patienten Musik vom Therapeuten gespielt wird oder die Musik vom Tonträger stammt. Es ist immer „seine“, des Patienten, Musik insofern, dass für den Patienten gespielte Musik an ihn und für ihn adressiert ist bzw. ihn als seelischen Absender hat.

therapie kreativ: Warum braucht der Mensch Musik?

Decker-Voigt: Zum Aufwachsen und lebenslangen seelischen Wachsen und zum Überleben. Ich begründe: Bereits intrauterin, also im Mutterleib, werden wir von allen Elementen geprägt, aus denen Musik besteht: Vorwiegend Rhythmus (in der mütterlichen Herzrhythmusfigur sind wir 26-28 Millionen mal „eingebettet“), aber auch Dynamik, Klang (der Körpergeräusche), Melodie (der Mutterstimme) und kleine und große „akustische Formen“. Solch „musikalisches Proto-Erleben“ baut nicht nur unsere Hirnstruktur mit entscheidend auf, ist also regelrechter „Lebens-Unterhalt“, ist Hirnnahrung im Mutterleib, sondern prägt uns lebenslang für unsere Verstehensebene, unsere Kommunikation.

Psychoanalytisch gesehen machen wir pränatal auch schon „Proto-Erfahrungen“ von Abwesenheit und Anwe­senheit anlässlich der Stimme der Mutter. Wir erleben als Feten pränatal bereits den „fötalen Narzissmus“: Jenes ozeanische Grundempfinden, das mit jener Wahrnehmung, die wir nach der Geburt entwickeln, Vorläufer des kleinkindlichen und folgenden Narzissmus ist.

Bis zur Sprachschranke um das 2. Lebensjahr herum tauschen Kinder mit ih­ren Bezugspersonen sämtliche primären Gefühle und Affekte stimmlich­musikalisch aus in Verbindung mit Bewegung und Berührung. Das griechische „musike“ fasst übrigens Musik und Bewegung, Tanz und Poesie zusammen. Jede (klein)kindliche Zärtlichkeit, Sehnsucht, jeder Spaß und Zorn werden stimmlich­musikalisch gestaltet - und das prägt nebenbei auch das Timbre und den Reich­tum späteren Sprechens. Psychologisch gesehen wächst unser Selbstempfinden und die Beziehung zum Gegenüber, zum Objekt durch das Gesamt akustischer und musikalischer Eindrücke und Ausdrücke. Nichtsprachliche Kommunikation eben, die Annäherung ermöglicht, die zum Verstehen und Verstandenwerden führt — die ganze Zeit vor dem Spracherwerb und danach als „unmaskiertere Gefühlssprache“, mehr als es Sprache sein kann. Musik ist zuerst Unterhalt, spä­ter zusätzlich Unterhaltung und steuert Vitalität und Entspannung für unsere Psyche wie für unsere Physis. Musikpsychologie, Musiktherapie, Musikmedizin nutzen die Forschungshintergründe längst. Und ein paar weitsichtige Schulmusi­kerlnnen, Kirchenmusikerlnnen, Musikerzieherlnnen und Sozialpädagoglnnen lesen und handeln sich in diese „Basis-Ernährung Musik“ hinein und integrieren, was wir heute lernen und wissen dürfen...

therapie kreativ: Sie ziehen in Ihren Büchern verschiedene Wissenschaften heran — und plädieren gleichzeitig für Musiktherapie als Kunst. Wie vereinen Sie das, wie vereint sich das?

Decker-Voigt: Das ist für mich derzeit ein gleichermaßen vergnügtes wie ernsthaftes Thema. Das Vergnügte daran: Gegenwärtig zeigt sich mir eher die Umkehrung. Jede gegenwärtig wichtige psychologische und medizinische Hauptströmung (westliche Schulmedizin, östliche Schulmedizin, Psychoanalyse, Humanistische Psychologie, Verhaltenstherapie usw.) scheint inzwischen auch eine eigene Musiktherapie-Strömung entwickelt zu haben. Unser Fach boomt in dieser Hinsicht — eben aufgrund von fleißiger und fortschreitender Forschung und deren Ergebnissen, auf die keine Wissenschaft von Rang verzichten will. Und sei aus es modischen oder ökonomischen Gründen.

Geschichtlich ist es tatsächlich so, dass heutige Musiktherapie ohne die inter­disziplinäre Anbindung und Einbindung in sehr viel früher schon „fertig profi­lierte“ Wissenschaften (Schulmedizin, Psychologie usw. s.o.) nicht denkbar ist. Nicht nur Menschen, auch Fächer und Wissenschaften, die von Menschen reprä­sentiert und von Verbänden verwaltet werden, durchlaufen eine ganz normale Profilneurose - bis das Kernprofil „steht“ - oder aber sich als nur vorübergehende Erscheinung auf dem Wissenschaftsmarkt aufgelöst hat.

Ein Beispiel für die gegenwärtige Zusammenarbeit und Verschränkung mit anderen Wissenschaften, die wir nicht nur „beleihen“, sondern auch weiterbrin­gen helfen können: Um die wichtige Funktion von Musik im Spiel des Kindes zu verstehen, um zu verstehen, warum es lärmenden Krach macht oder warum es hunderte von Malen dasselbe Lied fordert, um seine frühen Lallgesänge und spä­teres Singen zu verstehen - dazu ist Wissen aus der modernen Entwicklungspsychologie hilfreich. Ebenso Wissen aus der Wahrnehmungspsychologie und der Psychoanalyse. Wir brauchen weiter Wissen um die Funktion von Musikhören und Musikmachen des Menschen für seine hirnorganische Entwicklung. Wir nutzen dieses Wissen aus Medizin und Biologie z. B. bei den PatientInnen im Wachkoma und denen mit erworbenen Hirnverletzungen in unserem Lehrkran­kenhaus für Musiktherapie. Oder die Musikmedizin, das ist Musik im schulme­dizinischen Behandlungskonzept (z. B. Musik als Anästhesie-Mittel bei OPs oder bei chronischen Schmerzpatienten) — sie basiert auf dem genauen Wissen um die Körperantworten des Menschen auf bestimmbare Musikmerkmale und Mu­sikstrukturen. Einerseits.

Andererseits ist solchermaßen gesammeltes Wissen ja immer gruppiert um Musik und Musik ragt immer in den Symbolraum hinein, ist Symbol, ist Stell­vertretung, steht für etwas in der Sozialisation des Hörenden oder Spielenden. Aber was ist Kunst in der Kultur anderes — wenn nicht eine Symbolwelt, die et­was zeigt über das Gezeigte hinaus? Was anderes bietet Kunst allgemein und Musik als Kunst in der Kultur, wenn nicht die Sprache der Symbole, die den hörenden, den betrachtenden Menschen an-spricht? Wir gehen aus keinem anderen Grund in Konzerte, Galerien oder lesen Literatur, wenn nicht aus diesem Grund der Kunst, der Künste, die auch einen Lebensgrund für den Menschen darstellen. Kunst zeigt nicht nur unsere Kränkungen, unsere Krankheit und unsere Gesund­heit, unsere Ressourcen. Sie bildet dies alles nicht ein-fach ab, sondern verwandelt es mehr-fach, verarbeitet das Gezeigte. Deshalb sagt James Hiliman, dass die Zu­kunft der Medizin wieder in den Künsten liegt, mit deren Hilfe der Patient seine Symptome aktiv umgestaltet, jenseits der Rolle des passiv-rezeptiven Objekts.

Musiktherapie sitzt nicht zwischen den Stühlen, auf denen Wissen(schaft) und Kunst sitzen. Vielmehr besetzt sie (mit anderen Heilkünsten) einen eigenen Stuhl zwischen den Nachbarn, einen brückenschlagenden Stuhl.

Heute wachsen die Bereiche in den künstlerischen Therapien und durch diese wieder (etwas mehr) zusammen. Am ehesten in Gebieten, wo westliche Schul­medizin und z. B. traditionelle chinesische (Schul-)Medizin sich vereinen, denn letztere hat die Künste und künstlerische Techniken in Musik, in Bewegung und Malen nie ausgegrenzt wie unsere streng naturwissenschaftliche Medizin des We­stens. Diese bewegt sich meiner Beobachtung nach weiter mit wachsendem Anteil ihrer Repräsentanten reuig und hoffnungsvoll auf die Künste wieder zu. Denn „Begegnunggestaltung“ im Sinne Martin Bubers und im Sinne humanistischer Psychotherapie kann Medizin heute nicht mehr leisten. Deshalb sucht sie die Künste und deren Therapeutlnnen, um diese Aufgabe zu delegieren.

Äußeres Zeichen dieses gesellschaftlichen Sinneswandels in den letzten drei Jahren: Während Medizin-Lehrstühle eingespart werden müssen, werden neue Musiktherapie-Studiengänge gegründet.

therapie kreativ: Sie verneinen jedes Kausalitätsdenken, ein „Wenn-dann“­Denken und Handeln in der Musiktherapie und plädieren für das sehr viel schwierigere „komplexe Denken“. Wie kamen Sie dazu?

Decker Voigt: Das ist eine komplexe Frage. Es war keine Zigeunerin auf ei­nem Jahrmarkt in Ungarn (von denen ich einige kenne), sondern der alte Prof. Jädicke, letzter Schüler von „dem Schulz“, der das Autogene Training entwickel­te. Er nahm in seinen letzten Jahren noch einen kleinen Lehrauftrag bei uns im Diplom-Studiengang wahr. Ich besuchte Jädicke zum Abschluss seiner Arbeit in seinem Heim im Harz und dort legte er mir auf meine unbescheidene Frage da­nach, „Was der Mensch sei?“, eine Glaskugel in die Hand. „So,“ sagte er, „rund und innen drin unendlich eckig!“ Zusammen mit z. B. dem alten Fritz Riemann (Grundformen der Angst) und den weiterentwickelten Persönlichkeitstheorien sowie der neuen Entwicklungspsychologie u.a. wirkt die Sicht auf den Menschen, seine „Infrastruktur“, seine „Sozialstruktur“ nicht nur komplex und verlangt komplexes Denken, sondern er ist es ganz einfach. Wir sind phänomenal viel­schichtig und jedes Rollen der Kugel in meiner Hand oder die Drehung der uns gebärenden ebenfalls runden Erde mit ihren gleichen Eigenschaften wie wir sie haben, bedeutet immer neue, sich verändernde Perspektivwinkel, die neues Sehen und Verstehen erfordert. Was auf die Erde und den sie umhüllenden Kosmos zutrifft, der mit uns zusammen Gottes (im mehrfachen Sinne:) tolle Schöpfung darstellt, nämlich die Erkenntnis, dass das einzig Beständige die Veränderung ist, macht erst recht uns Menschen aus, die wir seit Darwin zwar nun nicht mehr die Krone der Schöpfung darstellen - wohl aber deren Zackenarchitektur verstehen und analysieren können.

Ob in der Morphologie Goethes oder in der morphologischen Musiktherapie, ob in Chaostheorien oder Psychodynamischen Theorien — es läuft nirgendwo auf die Kausalität der konservativen Naturwissenschaft hinaus (bei der wir im Falle eines Beinbruchs in Sachen Diagnose und Behandlungskonzept auf schnelle Kau­salitätsdenkfähigkeiten unseres Arztes angewiesen sind). Es läuft auf Komplexität hinaus, auf Interdisziplinarität.

Vor dem Hintergrund des bescheidenen „scio nescio“ des alten Gründungs­Weisen unseres antiken Abendlandes (,‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.“) habe ich mein Bild vom umgedrehten Tannenbaum entwickelt. Eine meiner Töchter hat ihn mir gemalt, geschenkt. Ich hielt dieses Bild vom kindlichen Tannenbaum mit seinen groben Dreiecken, unten großen, oben kleinen, bei einem Vortrag ver­kehrt herum: Der Fuß des Tannenbaums war mit seinen großen Dreiecken oben, die kleinen unten. Die Tochter saß vorne und versuchte, mich auf den Fehler aufmerksam zu machen. Es war mir passiert, ich hatte ihr Bild verkehrt herum gehalten, als ich gerade — nichts ist Zufall — über die Ausbildungen und Weiter-bildungen im Beruf des Therapeuten referierte. Seitdem nutze ich dies verkehrte Bild als Symbol für folgende Erfahrung:

Vor dem Ende jeder meiner Ausbildungen und Weiterbildungen dachte ich angesichts der Prüfungen: Wenn ich das geschafft habe — dann bin ich — fertig! Und habe mein wichtigstes Handwerkszeug. Doch jedes Mal am Beschließen des einen Tannenbaumdreiecks (Diplom, Master, Promotion, Zertifikate noch und nöcher...) hatte sich das nächste Dreieck des umgedrehten Baums aufgetan:

Noch größer, noch undurchsichtiger, noch mehr Dickicht und Dichte als vorher. So komplex sehe ich die Arbeit, komplex mich und Sie mit auch dieser Frage. Wir arbeiten ja in der deutschen Musiktherapie nicht nur vor dem Hinter­grund der Phänomenlogie. Wir sind Phänomen. Selbst dann, wenn wir uns aus­schließlich in Kausalitätsbegründungen für diese Welt zu flüchten versuchen — ist ein Mensch ein Phänomen, welches wir nur durch komplexes Denken verstehen werden können.

therapie kreativ: Wie erleben Sie Lust und Last des Mitschwingens in der Therapie?

Decker-Voigt: Dies sehe ich als eine persönlichere Frage als die nach meiner Biographie oder Motivation. Deshalb eine persönliche Antwort. Die riskante Kurzfassung: Seit ich für mich entschieden habe, nur noch mit den PatientInnen zu arbeiten, mit denen ich gerne arbeiten will (Begründung folgt), erlebe ich we­nig „Last“ im negativen Sinne. Die Lasten, die die Therapie mit sich bringt, weil der Patient zunächst seine neurotischen und psychotischen Anteile auch über mir auszuschütten versucht, kann ich dem Patienten nicht „an-lasten“, weil er eben wegen dieser seiner Lasten zu mir kommt.

Ich muss vor dem existenziellen Abhängigwerden von einem therapeutischen Beruf lernen, dass PatientInnen in seltensten Fällen eine ungestörte Objektbezie­hung zum Therapeuten aufbauen können. Eben weil sie ihre Hilfsappelle durch Kontaktstörungen nur zu zeigen imstande sind, und die darf ich, brauche ich nicht persönlich zu nehmen. Die darf ich nicht zur schnellen Last werden lassen, die die nächsten Interventionsschritte beeinflusst. Die darf ich nicht einmal zur Last werden lasseen, wenn z. B. ein „schwerer Fall“ begleitet sein will, etwa ein Patient mit einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Denn die äu­ßert sich dann — ganz sicher — mit einer manchmal Atem beraubenden Wechsel­haftigkeit von Idealisierung des Therapeuten und seiner Abwertung mitsamt Vernichtungswünschen. Das will ausgehalten sein, indem auch dann die Lust am Mitschwingen mit diesem Patienten in dem atemberaubenden Abenteuer nicht vergeht. Seine Ohnmachts- wie Alimachtsanfälle sind mir inzwischen etwas ver­trauter geworden, weshalb ich nicht in die Knie zu gehen brauche (wie zu Beginn meiner Arbeit mit persönlichkeitsgestörten PatientInnen).

Es geht zwar nicht ganz so einfach mit dem Erwerb dauerhafter „Lust am Mit­schwingen“, wie Mary Priestley es sinngemäß sagte auf die Frage, was man brau­che für „gute Musiktherapie“. Sie schrieb und sagte es in einem Gespräch mit un­seren Hamburger StudentInnen: Um gute (Musik-)Therapie machen zu können, braucht es

  1. gute private intakte Beziehungen
  2. eine gut bezahlte Stelle oder gut gehende Praxis und
  3. sehr viel freie Zeit für sich selbst.

Aber es ist etwas dran an Richtungsweisung dieser großmütterlichen Empfeh­lung. Denn wir haben keine „YAVIS“-Patients, sondern Leidende (von lat. patior, passus sum = leiden). Der YAVIS ist ein Patienten-Idealtyp, den Carl Rogers

— sonst kein ironischer Mensch — aus den Wörtern schuf: Y für young, A für at­tractive, V für verbal(isierungsfähig), 1 für intelligent und 5 für successful. Ich fü­ge zu diesem Ideal im Blick auf das heutige Gesundheitswesen hinzu: Ideal wäre auch noch R (für rich).

Wenn ich größere, kaum mehr tragbare Last in einer therapeutischen Bezie­hung erleiden müsste — dann wäre ich unprofessionell oder meine Supervisorin blind, meine Intervisionskolleglnnen dito und meine Weiterbildung für die Fü­ße, meine Ausbildung wäre keine gewesen. Gute Ausbildung führt zur Aus­Bildung der „Kompetenz zu Lastenträgerschaft“. Gute Ausbildung führt den Therapeuten zum Erkennen, wenn die Begleitung des Patienten ein Zuviel wird für die eigenen Kräfte. Dann ist die „Krisenintervention der Supervision“ dran oder das Abgeben der Therapie an eine Kollegin.

YAVIS haben wir also nicht im Wartezimmer. Den kriegen wir auch nie und wenn — dann wäre es keine Therapie. Also haben wir das Gegenüber zu tragen, wie es ist und die „patientia“ (lat. = Geduld, das Ertragen der Belastungsfolge im Patienten) liegt immer auch bei uns.

Aber ich „muss“ auch nicht mit jedem Menschen länger arbeiten müssen. Schon gar nicht mit einem Patienten, der meine Fähigkeit zum Mitschwingen durch zu große Eigenbelastung oder durch auffällig persönliche Sym- oder Anti­pathien einschränkt. Im letzteren Fall sollte ich nicht weiter arbeiten.

Vor dem Hintergrund möchte ich keine freie Praxis in USA oder sonst wo aufbauen müssen: Um nicht existenziell und im Blick auf meine nötigsten Bröt­chen auch auf Patienten angewiesen zu sein, die ich ungern begleite.

Ich denke, dass ich in der glücklichen Lage bin, die Waagschale der Lust am Mitschwingen als schwer und die der Last als leicht leben zu dürfen. Es hängt mit einem Erkenntnisfortschritt zusammen, der in mir noch nicht sehr alt ist und aus dem Entscheidungs-Freiraum stammt, den ich meinen PatientInnen immer schon einzuräumen versuchte: Seit meiner Anfangszeit als Musiktherapeut in der Sozialpsychiatrie der Medizinischen Hochschule Hannover (noch unter den gro­ßen alten Männern Prof. Kisker und Wulff) lernte ich, dass PatientInnen sich unter den angebotenen Therapieformen und Therapeutlnnen relativ frei ent­scheiden „können dürfen sollen“. Mindestens galt das für die sog. „Bezugstherapeutlnnen“, die dann bei gelingender Beziehungsqualität auch zur einen oder anderen Therapieform „hinempfahlen“. Der Patient entschied sich al­so für Musiktherapie (oder woandershin) und wurde nicht passiv „überwiesen“. Der dadurch entstehende Beziehungsbonus erleichterte dem Patienten die spätere Übertragungsbeziehung zu den Therapeutlnnen, in der Musiktherapie also zu mir. Hinzu kommt generell die Beobachtung, dass PatientInnen in die jeweiligen Therapieräume mit dem Türschild „Musiktherapie“ leichteren, auf Spiel ausge­richteten Herzens gehen — als wenn darauf nur „Psychotherapie“ stünde. Schul­musiktraumatisierte PatientInnen kommen ohnehin in meiner Wahrnehmung erst, wenn sie genügend Andersartiges von ihren Mitpatientlnnen über Musik-therapie und die Person dahinter hörten, andersartig als ihre Musiklehrer­Erinnerungen. Nebenbei, aber wichtig: Nach meiner Meinung entscheiden sich PatientInnen überwiegend aufgrund der Nasenspitze des Therapeuten oder der Therapeutin und dem, was dran hängt — und nicht für eine ihnen noch dazu un­bekannte Therapieform.

Mein Erkenntnisfortschritt: Diese Freiheit des Patienten (inmitten der durch seine Behinderung, seine Erkrankung determinierten Unfreiheit) nehme ich seit gut einem Jahrzehnt auch für mich in Anspruch: Ich arbeite vorwiegend einzel­musiktherapeutisch. Und mit einem Patienten verabrede ich im Rahmen der Kliniken, in denen ich arbeite und ebenso in meiner eigenen Ambulanz-Praxis für Psychotherapie und Musiktherapie die nicht nur gesetzlich sinnvollen fünf „Schnupperstunden“. Bevor ich weiterarbeite, tauschen wir uns aus, der Patient und ich, und ich erlaube mir die Position: Wenn ich nicht mit einem Menschen länger therapeutisch arbeiten will — dann begleite ich auch nicht weiter.

Wieder anders ist es mit der Lust bzw. Last am Mitschwingen bei meinen Pa­tientInnen mit erworbenen schweren Hirnverletzungen, im Wachkoma oder un­ter chronischem Schmerzdruck: Da habe ich bisher noch nicht erlebt, dass mir die „Lust der Begleitung im Mitschwingen“ verging. Da bin ich viel zu sehr inter­essiert (von lat. inter-esse = dabei sein), wie und wo der Zugang zum Kommuni­kationspotenzial, zur Ressource dieses Gegenübers sein könnte. Da bin ich über winzigste Antwortsignale — oft zuerst nur in meiner Gegenübertragung — tagelang happy. Mehr als über Serien zweifelträchtiger Dankschreiben eines neurotischen Patienten, bei dem mir die Ablösung, das rolling back aus der Therapie offenbar misslungen ist.

Zweimal in 15 Jahren ist mir passiert, dass ich die Therapie nicht weiterführte. Meinetwegen — und nicht ohne vorherige Supervisionshilfe und Absprache mit den Mitbehandlerlnnen im Team. „Mitschwingen“ und die bei tiefenpsycholo­gisch-phänomenologisch orientiertem Arbeiten so nötige „schwebenden Auf­merksamkeit“ setzt eine tragfähige, grundsätzlich supportive Beziehung voraus.

Ich sehe dabei nicht etwa besondere Sympathie-Voraussetzungen für eine gelin­gende therapeutische Beziehung oder Antipathien als Störfaktoren für eben die­selbe (besondere Sympathie stört und verhindert übrigens therapeutische Bezie­hungen ebenso wie unprofessionellerweise nicht bearbeitete Antipathien des The­rapeuten gegenüber dem Patienten). Ich sehe als Voraussetzung für meine gelin­genden Beziehungen therapeutischer wie außertherapeutischer Art eher die Grundhaltung, wie sie die Weihnachtsgeschichte bei Lukas 2 meint mit „Pax hominibus bonae voluntatis“. Die gottzentrierte falsche Übersetzung lautet: Frie­de den Menschen seines Wohlgefallens. Die richtige heißt: Friede den Menschen, die guten Willens sind.

Noch allgemeiner, weil ich die ethische Grundlage einer konstruktiven Bezie­hung keineswegs nur christlich eingebunden sehen möchte: Am Anfang beson­ders einer therapeutischen Beziehung sollte „Friede“ im Sinne von wechselseitiger konstruktiver Offenheit füreinander bestehen können. Denn der Fortgang der therapeutischen Arbeit bedeutet für den Patienten wie für den Therapeuten Kri­senarbeit und beiderseitiges Aushaltenmüssen jede Menge. Da sollte der Anfang „so komfortabel wie möglich sein“, sowohl in der Beziehung wie in Fragen des Raums, der Zeit.

Mit der Einschränkung „so komfortabel wie möglich ...“ meine ich, dass auch PatientInnen unter akutem Krisendruck, von einem Schub ihrer Erkrankung wirklich geschoben und gezogen und kaum in der Lage, die Beziehungstragfähig­keit mit dem Therapeuten zu reflektieren, spüren müssen, wie authentisch und rund das „Ja“ des Therapeuten zu ihnen ist. Und dies zu reflektieren ist zentrale Aufgabe des Therapeuten mit sich allein und in der Supervision.

Die Last, den Patienten durch seinen „dunklen Wald“ (C. Rogers) hindurch­zubegleiten, ihn im Sinne von Winnicotts „Holding Function“ zu tragen, wie es ähnlich das „containing“ von Mary Priestley meint — die Last ist dann umso ge­ringer, wie das Arbeiten, das Bemühen des Patienten ernsthaft ist, einschließlich all der Konflikte, die der Patient in der Übertragungsbeziehung mit dem Thera­peuten erlebt und erleben muss. Sonst kann er inmitten seiner Autoritätskonflike, inmitten seiner gestörten Beziehungen zu Elternteilen mit Folgen für alle übrigen Beziehungen, inmitten seiner narzisstischen Erkrankung samt hilfloser All­machtsversuche und mächtiger Ohnmachtsängste keine neuen Erfahrungen ma­chen. Der Therapeut ist die Chance für den Patienten, in der Übertragungsbezie­hung die Lernerfahrung zu machen: „Ich (der Patient) bin hier anders — weil der Therapeut anders ist“. Anders als die Personen, mit denen ich meine behindern­den Lebensmuster ausprägte.

Dies Wissen um die Schwere des Aushaltens der eigenen Gegenübertragung in mir, dem Therapeuten, wird zunehmend erleichtert, wenn der Patient offensicht­lich „rankommt“ an die Konfliktherde. Da wird die Last — jedenfalls nach der Durcharbeitung der Konfliktherde — zur Erfüllung, also der Lust des Therapeu­ten an seinem Beruf.

Ich liebe diesen Beruf: Meine PatientInnen brauche ich zu meiner Erfülltheit und Erfüllung — und die ist nur eine andere als die, die der Patient in meinem Beisein von seinem zu ändernden Lebenskonzept erhofft.

Die Frau eines älteren und weisen Hochschullehrer- und Therapeuten­Kollegen aus Hannover klagte, dass längst vor dem Ende des jährlichen Urlaubs ihr Mann schwerer erträglich würde. „Er ist nur in Ordnung, wenn er seine The­rapien hat.“ Seit meine Frau dies hörte, weiß sie sich in einem großen Verein, der gar nicht gegründet wurde.

therapie kreativ: Ausblick „Musiktherapie vor zehn Jahren und in zehn Jahren

Decker-Voigt: Ich hätte lieber 20 Jahre, ja? Vor zwanzig Jahren hatten wir noch das, was ich mit der „Profilneurose“ unseres Faches meinte, die jede Wis­senschaftsrichtung durchläuft. Da gab es zwar schon Musiktherapie in der Lehre an einem Drittel derjenigen Hochschulen, die dies heute anbieten, es gab neben der wachsenden Verwissenschaftlichung aber auch Kinderkrankheiten. Manch­mal aus heutiger Sicht mit tragikomischer Naivität. So verstanden manche Mu­siktherapeutlnnen noch unter Musiktherapie, dass sie mit ihrem Akkordeon von der Musikschule und deren SchülerInnen abends in die Psychiatrie gingen, um dort mit den PatientInnen zu singen. Nichts gegen Singen in einem musikthera­peutischen Praxisfeld — viel zu wenig geschieht dies — aber es sollte im Kontext psychotherapeutischen Wissens und Handelns stehen. Oder: In manchen Ausbil­dungen, weit mehr private als heute, bot ein und dieselbe Person ein Seminar an, für die Seminarteilnehmerlnnen gleichzeitig Lehrtherapie und — während der Praktika — noch Supervision. Vor 20 Jahren galt noch Mary Priestleys Meinung, dass psychoanalytische Musiktherapie bei geistig behinderten PatientInnen ohne Verbalisierung nicht möglich sei und unsere Verbände waren damals noch weit­aus zerstrittener als sie es heute sind. Vor 20 Jahren galt Musiktherapie im Ge­sundheitswesen weit überwiegend in der Sicht anderer Gesundheitsberufe, vor allem der Medizin, als Adjuvans-Therapie, als Zulieferant für die eigentlichen Haupttherapien, die akademischen Ausbildungen vorbehalten waren — unter der Patronage der Medizin.

Am Letzteren hat sich wenig geändert, was ich normal finde aufgrund der Zentralität der Medizin, die nicht umsonst etymologisch verwandt ist mit „Medius“ = lat. die Mitte, die Mitte haltend. Aber Musiktherapie, die ja erst „akademisiert“ wurde, bevor sie sich wissenschaftlich gründlicher profilieren konnte, ist heute auf dem Weg zum selbständigen Heilberuf.

Ich sehe die frühen Berufsqualifizierungen mit Hochschulabschluss in den 70er Jahren weit vorgelagert dem heutigen Stand musiktherapeutischer For­schung. Dies ist auch ein Phänomen anderer Fächer, erst recht aber eines wie un­serem, zwischen Kunst und Wissenschaft bzw. nicht zwischen, sondern mit bei­den verklammert.

Ich weiß um die Gegenwart: Immer noch keine Kassenzulassung für musik-therapeutische Praxen, weiterhin Absenkungen von Gehältern bei Stelleninha­bern, Nichtbesetzung von frei werdenden Stellen usw. usf. Aber alle diese mit ei­ner wirklichen Reform verbundenen Missstände trifft alle anderen Gesundheits­berufe auch. Manche mehr. Wenn wir Golo Mann und seiner Sicht von Reform und „reformare“ im nationalpolitischen wie psychologischen Sinne folgen, dann meint „reformare“ immer: Umgestalten, wiedererschaffen, verbessern, sich erneu­ern durch verkleinern (,‚Geschichte des 19./20. Jahrhunderts“ und „Wallenstein“) Mir ist — abgesehen von wenigen leider sehr dauerkranken KollegInnen — keine nennenswerte Quote echter Arbeitslosigkeit in der Musiktherapie bekannt.

Im Sinne der Kondratieff-Forschung sehe ich längst die Indikatoren für eine „Verselbstverständlichung“ der Musiktherapie im Gesundheitswesen. Die westli­che Medizin öffnet sich inzwischen mit allen Bereichen um Musiktherapie zu in­tegrieren. Auch wenn diese Bereiche noch klein sind: Es sind Musiktherapeutln­nen überall zu finden: Von Innerer Medizin bis zur Onkologie, von der Frühge­borenenbetreuung bis zur Sterbebegleitung. Und aus den angestammten Feldern der Musiktherapie wie Psychiatrie, Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Psychoso­matik war sie nie verschwunden, sondern gewachsen.

Es ist keineswegs werbepsychologische Kenntnis bei mir, dass ich einer sehr guten Zukunft für die künstlerischen Therapien das Wort rede (etwa nach dem Motto: Schlechtes Herbeireden verschlimmert Schlimmes, besseres Herbeireden verbessert die Chancen). Nein, das Hinauswachsen der Musiktherapie in nicht-klinische Bereiche wie Coaching, wie Supervision (s. unser letztes Symposion im Juni 2003 in Hamburg zu diesem Thema) ist nur Anzeichen dafür, was James Hillman vor 10 Jahren schrieb: Die Zukunft der Medizin liegt in den Künsten.

Wir werden in der Zukunft nur im Team „Heilkunst“ anbieten können: In Gemeinschaftspraxen, in freien Netzwerken, im Behandlungsverbund. Aber dann ist sie wieder da, die alte Heilkunst in neuem Gewand medizinisch-künstlerischer Zugehensweise auf den Patienten. Denn der, wenn er Musik oder ein Bild, seine Bewegung oder ein Wortspiel gestaltet, ist aktiv und gestaltet seine Symptome und deren Hintergrund aktiv mit und um. Und ist nicht mehr Objekt der Medizinindustrie.

therapie kreativ: Manche bezeichnen Sie als „Papst der Musiktherapie“. Wie geht es Ihnen, wenn Sie das hören?

Decker-Voigt: Nur noch schlecht, ganz schlecht. Ich finde das nicht mal als witzige Metapher lustig. Das war am Ende des Weltkongresses 1996 noch anders, als ich von einer Kollegin vor dem Plenum mit Musiktherapeutlnnen aus über 40 Nationen so bezeichnet wurde. Da — eigentlich nicht sehr reif und meinem da­maligen Alter entsprechend — ließ ich mich streicheln von dieser kurzfristigen, nett gemeinten Fütterung meines Narzissmus. Und nahm sie nicht weiter ernst.

In den Jahren seitdem aber freue ich mich nicht nur an Erfolgen, sondern lei­de ich unter Erfolgen. Das klingt kokett und ist das Gegenteil. Mit jedem sog. Erfolg, oft nur Folgen einer zugegeben umfangreichen Arbeitsdimension, verbin­de ich die Angst vor neuen Angriffen, wie ich sie vor zwei Jahren öffentlich erleb­te. Da hat, wenn auch nur ein einziges Zweierpaar von Kollegen, mit Hilfe eines Journalisten meine Existenz durch Verleumdungen vernichten wollen. Ich ver­stehe seitdem, dass ich Gefühle hervorrufe wie Missgunst bis Hass, Kritik bis „Wegmitihm“ (das war die öffentliche Forderung der Drei).

Die zunehmenden Übersetzungen meiner Bücher in inzwischen doch sieben Sprachen auf vier Kontinenten oder die neuen Gründungen, die mit meinem Namen verbunden sind (Zeitschrift, Lehrkrankenhaus für Musiktherapie, Wei­terbildungsakademie) machen mir einerseits Freude, aber nie mehr die wie frü­her. Ich leide, ich weiß, welch Wort ich da nutze, unter der Angst: Was und wen kränke ich mit dieser oder jener Aktivität und wann trifft es mich erneut auf­grund der Gekränktheit anderer?

Was ich schildere ist leider stinknormal für alle, die in Führungsfunktionen stecken. In jedem Verein, in Verbänden, Behörden und freien Gruppen gibt es Päpste. Begriffe wie „Einsamkeit des Amtes“ oder „Dünne Luft“ oder erfah­rungspsychologisch getränkte Sprüche wie „Wer hoch steigt, fällt tief“ usw. usf. kennt jede und jeder und es gibt eine Menge von Kolleginnen und Kollegen, die mindestens so fleißig und gut arbeiten, wie ich es versuche.

Papst, Königin, Kaiser und Chef? Bei unseren niedersächsischen Bauern sind die mit den meisten Hektar selten die Beliebtesten. Wir haben das Problem, seit es uns gibt: Mit unserem Revierverhalten, das in therapeutischen Kreisen nur bewusster ist als anderswo. Aber nicht weniger geübt und nicht weniger brutal praktiziert.

Von daher: Ich fühle mit jedem mit, der solch Prädikat bekommt wie König oder Königin, Papst oder was immer, des Vereins, der Partei, der Gruppe oder was immer - denn dann geht es jemandem zumeist auch gleichzeitig an den Kra­gen. Mitten in der Psychotherapie offenbar ebenso wie in der Politik und Wirt­schaft.

Aber bei Papst fällt mir speziell in Bezug zu mir noch etwas ein: Mein Vater und mein Großvater standen als evangelische Geistliche aus verschiedenen Grün­den der katholischen Kirche immer sehr nahe. Desgleichen meine Mutter. Schon, als dies noch „diszipliniert“ wurde. Als Kind erlebte ich einmal die Fronleichnam­Prozession der St.Ludwig-Gemeinde im Französischen Garten. Ich wollte tat­sächlich einige Wochen lang unbedingt der Mann werden, der da so prächtig ge­kleidet unter einem Baldachin schritt, der von anderen getragen wurde.

Meine Mutter ließ mich gelassen. Zum Schluss: Päpste und Kaiser sind wie

Glühlampenerfindungen: Immer an verschiedenen Orten der Erde gleichzeitig. Nur, dass einige sich für einzigartig halten. Das tue ich nicht. Und nicht erst seit der bitteren Erfahrung, die ich nur mit Hilfe von Familie, meinen StudentInnen, meinen KollegInnen und nicht zuletzt meinen PatientInnen überlebte, die mich „an der Stange hielten“. Das ist für einen Niedersachsen keine Metapher für Phallus mit all dem Schwierigen, was dranhängt. Das ist die Stange, mit denen Nichtschwimmer aus den Flüssen gefischt wurden. Oder mit der Menschen vom Galgen runtergeholt wurden, deren Gurgel nicht sprang, sondern hielt und die dadurch frei kamen.

 

      Die Fragen stellte Udo Baer.

 

Der Text wurde entnommen aus: therapie kreativ Heft 38, April 2004