Barftgaans, September / Oktober 2020
Jeden zweiten Dienstag
Seit 40 Jahren schreibt Professor Hans-Helmut Decker-Voigt die AZ-Kolumne
"Ach, du unheiliger Strohsack“, schrieb mir Professor Decker-Voigt auf meine Frage zurück, ob ihm schon einmal die Themen ausgegangen seien für seine Kolumne. Er habe sie „mappenweise“ sodass sie „bei 14-tägigem Erscheinen bis zu meinem circa 223. Lebensjahr reichen“. Es sollte den AZ-Lesern also nicht bange sein: Sie kriegen auch in der Zukunft alle zwei Wochen auf Seite 2 viel Privates, ein Quäntchen Politisches, Philosophisches auch, einen Zipfel Anthroposophisches, viel Linguistisches und anderes mitgeteilt. Und das nun schon seit 40 ]ahren.
Seit mehr als einer Generation. Das ist ohne jeden Zweifel ein Alleinstellungsmerkmal, ein Stück Zeitungshistorie. Inzwischen werden es am Dienstag, 22. September 2020, sage und schreibe 1487 Texte gewesen sein! Am 23. September 1980 erschien der erste; 40 Jahre später gibt es einen kleinen inoffiziellen Empfang, auf dem ein Buch mit Ausgewähltem vorgestellt wird.
Geschichten waren es immer. Mal welche mit kleinem Familienhorizont, mal mit geweitetem. Die schrieb Hans-Helmut Decker-Voigt schon früh, als Kind für seinen Großvater und den Kindergottesdienst. Er war erst 18, als sein erster Roman erschien. Vorbild für seine Texte ist Johann Peter Hebel, der seine Kalendergeschichten ab 1803 für den Badischen Landkalender verfasste:
Lehrreiche Nachrichten und lustige Begebenheiten, die der Leser für sich auswerten konnte oder die zumindest die eine oder andere Lehre bereithielten. Bei Brecht gibt es dieses Genre wieder.
Decker-Voigt hielt es mit allen. Seine Familie, Frau und zwei Töchter, wurden oft Träger der Handlung. Nicht immer zur ihrer Freude übrigens. „Meinen Töchtern war ich oft genug Zumutung“, sagt der Kolumnist heute, „sie haben viel ausgehalten, aber sich nie beschwert.“ Ehefrau Christine war die Einzige, die je ein Mitspracherecht hatte, und „vielleicht für fünf Prozent bat sie, es nicht zu schreiben.“ Und auch wenn die Kraft zur Verweigerung vielleicht zu den Stärken Decker-Voigts gehört - daran, an die Bitte seiner Frau, hat er sich immer gehalten. Neben der kleinen Familie weiteten sich die Themen. Es seien ja „atemberaubende Jahre gewesen“, diese 40 Jahre. „Stellen Sie sich vor, ich hätte in den 80ern über gleichgeschlechtliche Ehe geschrieben!“ Ja, eine gewisse Entwicklung ist der Gesellschaft vielleicht doch nicht abzusprechen; 1980 saßen noch nicht mal in Hessen die Grünen im Parlament, von deutscher Einheit nicht zu reden.
Was bedeutet es, wenn man alle zwei Wochen (anfangs erschienen die Texte gar wöchentlich) zu liefern hat? Lust, Freude, Bürde oder gar Zwang? Das Leben ist ja insgesamt eine ständige Arbeit an ein bisschen Fassung, Verfasstheit auch. Für Hans-Helmut Decker Voigt ist die Kolumne immer „Geländerhilfe“ gewesen im Auf und Ab seines Lebens, sagt er. Dieses Leben war an Dramen wahrhaft reich. Die hat er aber nie zum Thema gemacht. Als ich den Autor und Musiktherapeuten anlässlich des 25-jährigen Jubiläums seiner Kolumne im Jahr 2005, als er 60 Jahre alt wurde, das erste Mal besuchte, nannte er die Texte noch „Lebenswochenbuch“. Jetzt „Geländerhilfe“ weil bei großen Lebensamplituden nur eine gewisse Struktur und Selbstverständlichkeiten Stütze geben.
Schuld an diesen 40 Jahren ist Gunter Beuershausen, der damalige Chefredakteur der Zeitung. In dessen Kopf trieb eine Idee ihr (Un)Wesen, nämlich, eine Kolumne für die hochdeutsche Leserschaft - eine plattdeutsche gab es bereits - zu etablieren. „Er verführte und warnte mich“, sagte Decker-Voigt vor 15 Jahren. Der Zeitungschef bediente mit seinem Angebot natürlich die Eitelkeit, die sich in jedem narzisstisch regt bei der Aussicht, sich regelmäßig über einen langen Zeitraum darstellen zu dürfen. Er verschwieg jedoch mögliche Folgen nicht, dass sich Decker-Voigt damit zur öffentlichen Person machte. Und damit angreifbar. Von solchen Zeitgenossen, die immer den Dolch im Gewande tragen und nur auf Gelegenheiten zum Zücken desselben lauern.
Inzwischen hat der sechste Chefredakteur nach Beuershausen auf dem Sessel an der Groß Liederner Straße Platz genommen, die Konstante Kolumne blieb. Die Erzählungen, die über Familie und Politisches sinnieren, Vorbilder „hommagieren“ und in die Satirekiste greifen. Mit denen Decker-Voigt unsere (und seine) Schwächen und Schrullen mit dem nachsichtigen Lächeln des Verstehens umhüllt, Partei ergreift, ohne zu oktroyieren.
Wenn die Kolumne uns Lesevergnügen bereitet hat über nun unglaubliche 40 Jahre, wenn sie Spaß machte und ein stilles Lächeln entlockte, Nachdenken heckte oder manchmal ein Kopfschütteln und ein lapidares „naja“, dann sollten wir nicht vergessen, dass wirklicher Spaß Mühe kostet, Klugheit braucht und manch schmerzliche Erfahrung auch.
Tangieren den Schreiber Leserreaktionen noch, unter die sich in Zeiten des Internets auch Morddrohungen mischten? Letztere weniger, sagt er, dazu war die Schule der Verfolgung über viele Jahre im Internet zu hart. „Schöner Ausgleich sind die direkt an meine Mail gehenden Leserbriefe. Durch sie bin ich motiviert und bestens balanciert.“
Man könnte es am Ende wie Wieland sehen: „Laß dir an dem Bewusstsein genügen, deine Pflicht getan zu haben! Andere mögen es erkennen oder nicht.“ So souverän muss man einfach sein!
Termin: Das Jubiläumsbuch (mit CD) heißt „Immer dienstags. Ausgewählte Kolumnen 1980 bis 2020“.
Am Freitag, 30. Oktober 2020,20 Uhr, gibt es dazu im Neuen Schauspielhaus eine Lesung, „in der ich weniger Kolumnentexte aber mehr aus dem Nähkästchen plaudern werde“, sagt der Professor.
[Barbara Kaiser]