Barftgaans, April / Mai 2016
Geschichte und Geschichten
Die Pfarrhaus-Familiensaga von Hans-Helmut Decker-Voigt geht weiter
Das Ende des dritten Buches täuscht Ordnung und Glück vor: mit einer Hochzeit, die Elisabeth vor den Traualtar führt. Die älteste Tochter (*1916) von Pastor Georg Wilhelm Vogintius, der nach Bethel nun in Celle Dienst tut, konsequenter Pazifist blieb und einer der Obmänner der Bekennenden Kirche ist. Seine Söhne, Elisabeths Brüder, blieben bis jetzt am Leben. Der hochbegabte Heinrich wurde sogar, welch segensreiches Fatum, durch die Intervention des Bräutigams nicht nach Stalingrad befohlen, sondern darf unter Griechenlands Sonne Forschungsarbeiten betreiben. Der nazi-fanatische Rudolf schwimmt, auszeichnungsbehangen, im U-Boot von Sieg zu Sieg, ist nur irritiert, als sein Bruder einmal nach den Menschen fragt, die Opfer seiner Kanonen werden. Wir schreiben das fünfte Kriegsjahr: Dezember 1943. Eigentlich wollte Hans-Helmut Decker-Voigt diesen Teil seiner Pfarrhaus-Familiengeschichte bis 1945/46 fortsetzen. Aber es war wie befürchtet: Der Stoff hatte ihn ein weiteres Mal überwältigt. Der Verlag allerdings setzte Fristen: Die Buchmesse in Leipzig sollte Erscheinungsdatum bleiben. Außerdem eignet sich die im nächsten Jahr zu Ende gehende Luther-Dekade, die mit den Feierlichkeiten zu 50o Jahren Reformation kulminiert, ausgezeichnet für die Veröffentlichung von Büchern über protestantische Befindlichkeit in politisch wirren, widersprüchlichen Zeiten.
Es war nicht falsch, ausgerechnet diesen Familien-Resümee-Zeitpunkt als Abschluss zu wählen, wird sich doch im Jahr 1944 und bis zur bedingungslosen Kapitulation des 1945er Mai noch eine Menge ereignen. Gerade für die gesellschaftliche Schicht, in der sich der Autor bewegt. Stauffenbergs Attentat wird die Kirchenkreise, für die Georg Wilhelm Vogintius steht, erschüttern. Sind sie doch involviert in die Pläne für ein „Deutschland danach". Wir wissen, dass Decker-Voigts Vater, oben genannter Bräutigam von Elisabeth, dieses Engagement mit dem Leben bezahlt noch kurz vor Kriegsende.
Aber in diesem dritten Buch, das soeben erschien, ist die Pfarrhauswelt noch in relativer Ordnung. Sieht man von den täglichen Schreckensnachrichten und der allgegenwärtigen Angst ab, gibt es lichte Momente auch in dieser düster-braunen Zeit. Decker-Voigt unterzieht sich erneut dem Kraftakt, Familie literarisch darzustellen und trotzdem dem Anspruch verpflichtet zu bleiben, politisch und gesellschaftlich allgemeingültiges festzuhalten. Denn die Frage ist doch: Was wird bleiben von dem, was jeder anders sieht? „Vom Haken mit dem Kreuz", so der anspielungsreiche Titel, ist das bisher beste Buch der drei vorliegenden. Keineswegs nur, weil es in der Region Celle — Uelzen — Hamburg spielt, obwohl Wiedererkennungswert dem Leserinteresse immer zuträglich ist.
Der Autor gesteht die Furcht, zu nahe dran zu sein, gibt eine gewisse Aufregung zu Protokoll, sich seinem Vater, den er nicht kannte (!), auf diese Art anzunähern, seiner Familie und allen, die deren Wege tangierten oder kreuzten, ein Denkmal zu setzen. Es ist eine lebendige Erinnerung geworden, ein Werk, das, weil es welthaltig ist, auch Selbsthelferbuch sein kann. Für den Schreiber und den Leser. Decker-Voigt bleibt der Autor der präzisen Intelligenz und Pointiertheit; in seinen Texten hat das gepflegte Wort eine Heimat und trotzdem wird es den jeweiligen Personen maßgeschneidert angemessen. Und er ist der Verführer zum Selber-Denken! Eine Eigenschaft, eine Fähigkeit, eine Bereitschaft, die sich beklagenswert auf dem Rückzug befindet in der Gegenwart allgemein, in der Konsumtion von Literatur allemal.
Die besten Bücher seien die, so sagte es der französische Philosoph Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert, „von denen jeder Leser meint, er hätte sie selber machen können." So betrachtet, ist die Pfarrhaus-Geschichte unbedingt „bestes Buch". Natürlich könnten wir Leser es dennoch nicht selber, weil wir nicht über die Dokumentenberge aus einer Familien-Dynastie verfügen. Deshalb bleibt für uns Geschichte immer auch nur von abstrakten Personen gemacht, weil wir keinen Großvater hatten, der sich leidenschaftlich mühte, predigte und schrieb gegen die braunen Machthaber. Der in regelmäßigen Abständen zur Gestapo nach Hannover geladen wurde und trotzdem das Leben behielt. Der Netzwerke knüpfte für Widerstand und Aufklärung, der sich um seine Kinder sorgte, seine Gemeinde und seine Frau, seine Dorothea. Die er liebte, auch wenn er ihr nicht immer treu war.
Es ist ein unglaublich großes Mosaik, das der Autor legt. Es spiegelt zehn Jahre des Makrokosmos Deutschland ab 1933 im Mikrokosmos des Pfarrhauses einer Celleschen Gemeinde. Decker-Voigt verbündet uns Leser mit den vielen Leben, mit deren kleinen Freuden und Ärgernissen — und mit der großen Herausforderung, gerade in dieser Zeit Mensch zu bleiben.
Er schreibt mit jagendem Puls, gibt sein Zeitzeugnis mit genauem Blick und filigraner wie (zu)packender Erzählkunst. Und trotz der 65o Seiten ist es keine neurotische Hefe-teigprosa, die in den trüben Wassern der Selbstgewissheit schwimmt und armselige Gedankensimulationen und dürftiges Geschehen zum Großereignis aufbläst. Form und Inhalt machen den Text zu einer Literatur, die uns Nachgeborenen in authentischen Bildern Geschichte nahebringt. Eine regionale Familiengeschichte in den großen historischen Abläufen eines Landes. Dieses Deutschlands, um dessen Handeln und seine Konsequenz zwischen 1933 und 1945 zu viele immer noch einen Bogen zu machen versuchen. — In Russland übrigens gehen die Vorbestellungen für die Übersetzung zahlreich ein!
[Barbara Kaiser]