Hamburger Abendblatt, 13./14. August 2011

In ihrer o.g. Ausgabe widmete das Hamburger Abendblatt eine ganze Seite dem Thema Musiktherapie. Im Folgenden geben wir die zwei Haupt-Artikel dieser Seite wieder.

Beide Artikel wurden geschrieben von Manuela Keil

 

Töne geben Kranken neue Kraft

Vom Schrei-Baby bis zum Patienten in der Geriatrie - Musiktherapie wird neben der Onkologie auch in weiteren Bereichen der Medizin eingesetzt

Bach, Beethoven oder Beatles? Wann wird Musik als wohltuend erlebt? Welche Art beruhigt, welche bewegt und stimuliert? Sind es Klänge von Vivaldi oder lieber die Stones, Jazz oder Rockballaden? „In der Musiktherapie geht es nicht um Berieselung mit Klängen. Wir arbeiten viel mit Stille", sagt Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt, Leiter des Instituts für Musiktherapie in Hamburg bis 2010, seitdem dort Senior-Professor. „Und aus der Stille heraus wirken dann Töne, Klänge, Worte, äußere und innere Bewegungen mehrfach.« Musiktherapie könne viel bewirken, indem die Klänge Kräfte freisetzen und die Psyche beeinflussen.

Sie sei dagegen jedoch nicht - wie vielfach angenommen wird eine unschädliche Wunderarznei in Noten.

„Bereits im Mutterleib erleben wir alle Elemente der Musik wie Rhythmus, Dynamik, Klang, Melodie. Das prägt uns lebenslang", sagt Decker-Voigt. Zudem sei es im Mutterleib mit bis zu 98 Dezibel richtig laut, ohne den Schalldruck würde unser Hirn nicht wachsen. In den letzten Monaten der Schwangerschaft erlebt das Kind die Sing- und Sprechstimme der Mutter. „Später verstehen-wir zwar nicht die Sprache unserer Eltern, aber die Musik darin und damit die Stimmungen, Emotionen des Sprechenden. Wir wachsen musikalisch auf. Das nutzt die entwicklungspsychologisch verstandene Musiktherapie als Ressource." Auch zur Aufdeckung und Steuerung der Selbstheilungskräfte.

 

Beim Improvisieren wird der Umgang mit dem Neuen, mit dem Krebs, geübt

„Eine Patientin, die ein Bild zu dem Krebs in ihr malt oder auf Instrumenten und mit der Stimme ihrer Empfindungswelt dem Krebs gegenüber Ausdruck gibt, wird aktiv, kann mitgestalten, transportiert Inneres nach außen. Es entsteht ein Austausch mit dem Therapeuten, künstlerisch und im Gespräch. Auch die mit der. Krankheit verbundenen Ängste, Hoffnungen und Wünsche werden in der improvisierten Musik deutlich und ändern sich. „Beim Improvisieren - Im-pro-visation meint wörtlich das Unvorhergesehene - wird der Umgang mit dem Neuen geübt. Denn Leben mit Krankheit, Störung, Krise heißt: Umgang mit Neuem üben", sagt Prof. Decker-Voigt. Damit gestalte der Patient aktiv seinen Krebs und sei ihm nicht passiv ausgesetzt. „Wir haben hoffnungsarme Fälle erlebt, die medizinisch nicht erklärbar erstarkten - eine Leistung unseres Psycho-Neuro-Immunsystems."

Vor rund 50 Jahren entwickelte sich die Musiktherapie zunächst im Umgang mit behinderten Menschen sowie in Psychiatrie und Psychosomatik. Heute wird neben der Onkologie die Musik in allen Bereichen der Therapie und Medizin eingesetzt. Bei Herzinfarktpatienten, Tinnitus, Burn-out, Depression, Borderline, traumabedingten Störungen, Schlaganfall, Schmerzpatienten, Migräne, Aphasie, Autismus, Intensiv- und Palliativmedizin. Dies sind nur einige der vielen Einsatzgebiete der Musiktherapie, die zudem im Bereich Prävention und Salutogenese (Gesundheitsentwicklung) immer mehr Raum einnimmt.

Prof. Decker-Voigt forschte mehr als 22 Jahre an fünf Kliniken und hat weit mehr als 2000 Patienten behandelt. In seinen zahlreichen Büchern beschreibt der Wissenschaftler und Therapeut Fallbeispiele aus allen Bereichen des Lebens - vom Schrei-Baby bis zum Patienten in der Geriatrie.

Im Musikraum des Krankenhauses Ginsterhof in Rosengarten stehen Instrumente aus verschiedenen Ländern: kleine, große, leichte, geheimnisvolle und ganz fremdartige Klangkörper. Musiktherapie wird seit mehr als 25 Jahren in der Klinik für Psychiatrie und psychosomatische Medizin angeboten. Hier werden auch Patienten mit Traumafolge-Erkrankungen behandelt. Der Kern der Therapie in Einzel- und Gruppensitzungen ist die Improvisation. Dafür lädt Musiktherapeut Thomas Jüchter die Patienten zunächst ein, auf Tuchfühlung mit den Instrumenten zu gehen. „Ein wichtiges Thema in der Behandlung psychosomatischer Patienten ist der Verlust von Harmonie, also der Ausgewogenheit der Kräfte, die sich in körperlichen Beschwerden manifestieren. Die Aussage ‚ich bin harmoniesüchtig' weist ja auf eine abhängige Problematik hin, aber auch auf eine musiktherapeutische Indikation." Vielfach sei der Verlust von Balance auf traumatische Erlebnisse zurückzuführen.

Auch das gemeinsame „Chanten", das Singen um des Singens willen, kann Harmonie erlebbar machen oder wiederherstellen. „Es gibt kein besseres und wirksameres Mittel, das psychoemotionale Belastungen auflöst, Lebensmut stärkt und Selbstheilungskräfte reaktiviert als das Singen", sagt Hirnforscher Gerald Hüther.

Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit mit Angehörigen von hirnverletzten Patienten. „Die Angehörigen verzweifeln häufig in der verbalen Kommunikation und sind selbst therapiebedürftig", sagt Prof. Decker-Voigt, einer der bekanntesten Fachautoren mit Übersetzungen in 14 Sprachen. „Sie begreifen, dass sie durch die Musik ein neues Kommunikationssystem zu ihren erkrankten Angehörigen aufbauen können." Es sei beeindruckend, wenn da Menschen zusammen sind, die, angeleitet durch den Therapeuten, sich wieder austauschen können. Und zwar auf der für sie wichtigsten Ebene, der Gefühlsebene.

Bei allen Erfolgen sei die Musiktherapie immer individualisiert auf den einzelnen Patienten zu beziehen, betont der renommierte Therapeut. Eine immer heilende Musik gibt es ebenso wenig wie eine immer beruhigende.

 

 

Gemeinsames Musizieren kann Ressourcen freisetzen: Therapeut Gerhard Kappelhoff mit Jacob im Kinderkrebszentrum der Uniklinik Eppendorf .
Foto: Pressebild.de/ Bertold Fabricius

 


 

„Wer musiziert, ist gesünder”
 
Trotz der Erfolge der bundesweit 3000 diplomierten Therapeuten an 800 Kliniken ist keine Krankenkassenabrechnung möglich

 

Über die Kraft der Musik und ihre therapeutischen Möglichkeiten sprach das Abendblatt mit Professor Dr. Hans- Helmut Decker-Voigt, Mitbegründer und Direktor des Instituts für Musik therapie der Musikhochschule Ham­ burg bis 2010.

Hamburger Abendblatt : Was kann Musik positiv bewirken?

Hans-Helmut Decker-Voigt: Ist eine zum Beispiel ruhige Musik, die jemand hört, positiv für ihn besetzt, löst das die Frei setzung von Beta-Endorphinen aus, die zur Senkung des Grundumsatzes füh ren und zur Schlafbereitschaft, kurzum zur Entspannung und zu Glücksgefüh len. Diese Wirkungen werden vor allem in der Musikmedizin bei der Anästhesie genutzt. So können wir die gegebenen Anästhetika bis zu 70 Prozent senken, nur durch die Trancewirkung, die Mu sik für den Patienten hat.

Hören wir heute genug Musik?

Decker-Voigt: Wir konsumieren Musik mehr als je zuvor, aber wir hören sie im mer weniger, hören ihr weniger zu. Da­ bei besteht eine wachsende Sehnsucht nach Musik, im seelischen Zuhören ebenso wie im aktiven Gestalten. Der Mensch ist nun auch wissenschaftlich erwiesen gesünder, wenn er Musik macht.

Hat die Wirkung von Musik nicht immer auch zwei Seiten?

Decker-Voigt: Alles, was wirkt, kann konstruktiv und destruktiv eingesetzt werden. Mit den positiven Wirkungen von Musik arbeiten bundesweit rund 3000 Musiktherapeuten, und wir alle leben mit Musik und lieben sie. Auf der anderen Seite kann Musik auch stören, schaden und sogar bis zum Tod führen. Mit Musik wurde in der Ming-Dynastie gefoltert. Dauerbeschallung mit extrem lauter Musik oder Musik, die gerade unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, kann uns krank machen, kann uns foltern. Im Krieg dient Musik seit Jahr­hunderten auch zur Steigerung der Ag­ gression und zur manipulativen He­ bung der Truppenmoral. So beschleu­ nigt schnelle Musik den Kreislauf, ver­ ändert Blutdruck, Herzrhythmus, At mung sowie alle EKG-und tomogra­ fischen Ergebnisse. Heavy Metal und Techno können tranceartige Zustände hervorrufen und in einem Rhythmus gegen den Herzschlag sogar bis zum Tod führen.

Welche Bedeutung kann Musik haben?

Decker-Voigt: Dass Musik wirkt, war im­ mer schon deutlich, nur nicht wie heute analysierbar. Die Sucht nach „Beat" ganz allgemein im Sinne jeder schlag­ betonten Musik etwa im Pop ist psycho­ logisch immer auch ein Zeichen für Sehnsucht nach Geborgenheit. Denn je­ der regelmäßige Rhythmus erinnert an den mütterlichen Herzschlag, den wir bereits als Fetus in der Schwangerschaft speichern.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Musiktherapie?

Decker-Voigt: Nach vier Jahrzehnten ist die Musiktherapie in Deutschland als Therapieform etabliert. Hamburg war mit Heidelberg zusammen die erste hochschulische Ausbildungsstätte. Hier wurden auch bisher die meisten Dok­ torarbeiten geschrieben, deren Autoren heute die zwölf Musiktherapie-Studi­engänge im deutschsprachigen Raum leiten. Aber bei allen Erfolgen in Wis­ senschaft, Forschung und der täglichen Arbeit von bundesweit 3000 diplomier­ ten Therapeuten an insgesamt 800 der rund 1000 Kliniken ist für ambulant arbeitende Kollegen immer noch keine Krankenkassenabrechnung möglich. Eine Therapiesitzung kostet je nach Berufserfahrung des Therapeuten zwi­ schen 30 und 65 Euro. Es lässt sich jedoch Bewegung feststellen. So sind ei­ nige private Kassen, Firmen- und Ge­ nossenschaftskrankenkassen bereit, Kosten zu übernehmen. Es fehlt aller ­ dings noch eine breite gesetzliche Ver­ ankerung der eigentlich lächerlich we­ nigen Musiktherapeuten in unserem Gesundheitssystem.