“Kommen sie, junger Mann.“

Vier drastisch Jüngere in der Schlange vor mir. Sie werden von der mitteljungen Verkäuferin angeredet mit "Hallo" oder "Moin" oder "Hi" oder der geizigsten Anredeform, die es gibt: gar nicht. Bei mir, der ich drastisch älter bin, investiert sie mehr.
"Na, junger Mann, dann wollˋn wir mal", und beginnt mit dem Eintippen des Preises für die Gurken.
Bei den Yoghurtbechern habe ich den Mut zusammengekratzt und frage, was ich immer schon fragen wollte. Auch für die alte Dame fünf Schlangenplätze vor mir, die drastisch älter ist als ich, aber auch angeredet wurde mit "Na, junge Frau...?"

Ich frage sie, wie alt unsereins denn werden müsse, um nicht mehr als jung zu gelten. Und verzichte auf meinen eigentlichen Wunsch, meine Lebensaltersstufe gewürdigt zu wissen. "Guten Tag, der Herr, meine Dame". Oder auch nur ohne Herr oder Dame. 
Die Verkäuferin hält inne (inzwischen beim Hundefutter, genauer den Riesenknochen). Sie überlegt.

Ich auch: Ist dieses "junger Mann, junge Frau" ein Ausdruck eines voranschleichenden Jugendwahns? Ausdruck für die Angst vor der Menge zunehmender Gehhilfen oder Rollis an den Kassen und in der Gesellschaft und der dumpfen Erkenntnis, dass auch ihr eigenes Altern längst begonnen habe (erster Knochenabbau 

und andere Abbauten beginnen längst vor 30)? Oder ist es die Liebe zu eigenen Großeltern, deren Restlebenszeit man verdrängen will?
Oder machen wir  älteren und höher Alternden tatsächlich trotz Rollis  einen derart fitten  Eindruck, dass man uns mindestens von drei Ansichts-Seiten in unseren Jeans und Blousons, Sneakers und Sweatshirts für unsere Kinder hält?            
Oder zeigen wir derartige Angestrengtheit, jung zu wirken, dass man uns mit dem "Na,  junge Frau, junger Mann..." eine gutmütige  Anerkennung zuteil kommen lassen will?
Gleichwie - in früheren Gesellschaftsformen hat man die Alten getötet, in jüngeren - gar nicht lange her - ausgesetzt, indem man sie im restrüstigen Zustand mit Proviant aussetzte. Mit dem wanderten sie schnurstracks in eine Richtung. Den Sternen nach. Bis die Erschöpfung und ihre Schicksalsgötter sie zum Sterben sitzen oder liegen hießen.

In einer der ältesten Ming-Dynastien in China mussten die Familien für über 70jährige im Haus Steuern zahlen: Weil die Alten einen Erfahrungsschatz besaßen, der ihnen Vorteile brachte durch kostenlose Beratung in Erziehungs- und sicher auch Finanzfragen.

Vielleicht werden wir deshalb künstlich jung gehalten, damit unsere Jüngeren nicht (noch mehr) für die Senioren zahlen müssen, als sie dies jetzt schon tun.

19. März 2019
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