„Sie dürfen dort in die Wahlkabine…“
Tante Ulrike hat sich über die Europa-Wahl beschwert – vor jedem Endergebnis. Sie meckerte wegen ihrer Stimmabgabe. Meckern tut sie ebenso oft wie gerne, diesmal deshalb, weil der Wahlhelfer („eigentlich ganz freundlich, jung und auf den ersten Blick höflich“) ihr nach Vorlage des Ausweises diesen Satz gesagt hatte. „Sie dürfen dort in die Wahlkabine!“
„Die sollen doch dankbar sein, dass wir überhaupt wählen gehen! Da redet der von `dürfen`!“ Dann zeterte sie noch ein bisschen über die viele Arbeit, die das Wählen diesmal machte: „Den Landrat, den Samtgemeindebürgermeister, dies Europa – na, wie heißt der nochmal, den ich wählte…“.
Ich ärgerte mich auch. Über Tante Ulrike. Diesmal noch mehr, weil sie recht hat mit diesem „Dürfen“. Es macht Mode.
„Sie dürfen sich setzen…“ oder „Sie dürfen davon probieren…“ höre ich auch. Wieso „dürfen“? Tante Ulrike ist als Wählerin doch das Maß aller Politik. Und im Geschäft bin ich doch Kunde und als solcher König.
Solch „Dürfen“ sagten vor den Zeiten unserer Demokratie übergeordnete Autoritäten, vor deren Schreibtisch oder Esstisch oder an deren Bett man sich dann setzen durfte, „Danke“ sagte, sagen musste. Obrigkeiten sagten solchen Satz. Der Gymnasialprofessor zum Schüler in der „Feuerzangenbowle“
und außerhalb von diesem Film, der Maestro seinem Meisterschüler, der Polizist dem zu Vernehmenden. Die Kaiserin ihrem Leibarzt. „Sie dürfen gehen.
„Dürfen“ gab es im Sinne von „ich erlaube Ihnen“. Heute höre ich diesen oder ähnliche Sätze, wenn ich in einem gut besuchten Restaurant bei Regen oder Biergarten bei Frühlingssonne die Bedienung nach einem Platz frage. Sie begleitet mich dann zu einem noch nicht reservierten Platz im Restaurant oder einem versteckteren im Biergarten:
„Sie dürfen dort sitzen“, die jugendliche Bedienung sagt dies sehr freundlich. „Sie dürfen sie gerne anprobieren“, sagt der Verkäufer, als ich zwei Anzüge in die engste Wahl gezogen hatte. Auch der ist jung. Aber „dürfen“?
„Sie dürfen jetzt hereinkommen“, sagt die Dame in der Ambulanz des Krankenhauses. Immerhin schiebt sie ein „gerne“ ein.
„Sie dürfen gerne mitfahren“, sagt der Kartenverkäufer an einem Karussell.
Diese Art des „Dürfens“ ist kein Erlauben im Sinne der früheren Obrigkeiten. Manchen Wörtern geht es so wie den Zeiten und Parlamenten: Das Beständigste in ihnen ist die Veränderung.
Immerhin sagte man Tante Ulrike und mir nicht, dass ich diese oder jene Partei wählen dürfe.