Bänkelgesang für eine Dame

DIE AZ, weiblich. DIE Zeitung, weiblich, DIE Redaktion – weiblich, die Männer einschließend. Im Fall der AZ ist auch die Verlagsleitung weiblich. Unsere Sprache verleiht  einer Zeitung eine Menge Weibliches. Nun wurde der 170. Geburtstag unserer Zeitung gefeiert. Bei der Dame AZ ist das Geburtsjahr 1849 und da gebührt ihr die Ehre eines Bänkelgesangs, einer Moritat. Leider nur ohne Töne.
Eine Moritat fast immer, ein Bänkelgesang oft, beschreiben Geschehnisse um Mord, Liebe und Katastrophen herum –also das, was eine richtige Tageszeitung auch täglich transportiert. Was wurde – angeblich -  einmal an einer deutschen Journalistenhochschule empfohlen, um eine Zeitung populär zu halten, also auch rentabel? Die drei „T`s“: Tote, Tiere, Titten sollten in jeder Ausgabe vorkommen. 
Unsere alte Dame AZ dosiert sensibler als eine gewisse andere Riesenzeitung und orientiert sich an der Belastbarkeit ihrer Leserinnen und Leser. Was aber war zur Zeit der Geburt unserer alten Dame passiert, was bekanntlich das junge und weitere Leben prägt? Was transportierte das frisch geborene Baby, das unsere „Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide“ 1849 war, ihrer Leserschaft?

Sicher berichtete die heutige AZ damals unter dem ersten von ihren etlichen folgenden Mädchennamen (Nachrichten, Kreiszeitung usw.) über die verschiedenen Mai-Aufstände in Dresden und andere deutsche Revolutionen, weswegen dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Lust auf die deutsche Kaiserkrone verging. Sicher berichtete sie von der ersten Telegraphenverbindung von Berlin nach Frankfurt (es hat sich nichts geändert an der Achse Politik und Geld). Vielleicht erzählte sie von Herrn von Reuter, der mittels Brieftauben die Lücken im neuen Telegraphennetz zu schließen versuchte? Sicher kam auch was vom ersten Evangelischen Kirchentag, den J. H. Wichern in Wittenberg einberief. Oder davon, dass Frankreich entgegen der Meinung der Italiener (Garibaldi) wieder die Unfehlbarkeit des Papstes einführte? Vielleicht erschien – falls es eine anständige Wissenschaftsseite gab – etwas von David Livingstones Forschungsreise durch das Sambesi-Gebiet/Südafrika. Vielleicht – wenn es ein gutes Feuilleton gab, das es damals wie heute selten gibt – etwas vom Tod von Frederic Chopin? Sicher wieder fand sich der Tod von Johann Strauß dem Älteren in der AZ. Vielleicht die Verurteilung von Dostojewskij zum Tode (umgewandelt in die „Begnadigung Verbannung“). Ganz sicher wieder berichtete unsere damalige Zeitung von der Gründungswelle neuer Zeitungen und davon, dass leider das bei uns im Hannoverschen unbeliebte Bayern auch deutsche Briefmarken kriegte. Wie jede regionale Zeitung brachte die heutige alte Dame AZ, als sie Säugling war, Todesanzeigen, dann die weitaus beliebteren Verlobungs- und Heiratsanzeigen („Gesellschaftsnachrichten“) und Geburtsanzeigen. Wenn Redakteure und Kolumnisten echte Götter wären und sich nicht nur dafür hielten, würden sie auch vorhersehen, wer 1849 irgendwo geboren wurde und die Welt verändern helfen sollte. Z.B. hätte die AZ dann mit einem „Achtung!“ die Geburt des Erzpsychologen Pawlow gedruckt (ja, der mit dem Hund und der Glocke und dem Speichelfluss). Gleichwie, was die 170 Jahre alte Dame nun auf dem Buckel an bisher Berichtetem trägt: Sie würde ein dreifaches „Hurra!“ verdienen. Wenn dieses nicht leider so männlich besetzt wäre. Deshalb auf diesem Wege nur ein seriöser Handkuss eines älteren Herrn für eine uralte Junggebliebene.

17. September 2019

 

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