Vitamin gegen C...

Da ist Oma Sanne aus Bostelwiebeck nun auch zu erleben mit ihren fünfminütigen Auftritten zur Erhaltung der Lebensfreude – im “Netz“. Da trainiert Kerstin Wiethak vom Sportverein der Postler auch uns, die wir nicht Postler sind – auch im „Netz“. Da blasen sich die Böddenstedter Blechbläser ohne Internet den auf Distanz hörfähigen Zuhörern in die Herzen. Und ein sechsjähriger Schüler schreibt richtige Postkarten mit richtiger Briefmarke mit richtiger Spucke aufgeklebt an seine Klassenkameraden und die schreiben zurück. Kirchengemeinde- und Woltersburger Pastorinnen und Pastoren halten fünf Minuten-Andachten - im „Netz“ und auf der Straße mit mobilem Lautsprecher. Und Großeltern nehmen den Eltern ihrer Enkel die von fleißigen SchullehrerInnen geschickten Aufgaben ab und spielen Spiele, die der Kindergarten schickt – per Video-Telefonie.
Die Kreativität in der Nation, mindestens in unserer Region, expandiert, explodiert und ist seelische Nahrung für unsere Existenz durch schwierigste Erfahrungen hindurch.
Wie wirkt diese Nahrung mittels digitaler Medien, die Kreatives transportieren? Nahrung, die weder die Börse erträglicher sein lässt noch die Enge der Räume, die manche - je länger je mehr - als Gefängnis empfinden? Wo wir uns doch sonst von mobiler Freiheit draußen oder guten Aktienkursen ernähren?

Der Psychiater und Psychoanalytiker Viktor E. Frankl entwarf aus seiner Erfahrung in schlimmsten Notzeiten eine der bedeutendsten „Theorien aus der Praxis heraus“: Frankl war als Jude in einem KZ, versah darin aber nötigste ärztliche Hilfestellungen und orientierte diese an folgender Beobachtung bei seinen Mitinsassen: Die allermeisten von ihnen litten auch daran, dass ein Ende des Verlusts der Freiheit, des Gefangenseins nicht abzusehen war. Die Endlosigkeit von Belastung, von Elend führt zu „lebenden Leichen“. 

Zweite Beobachtung: Dort, wo sich in den Lagern Einzelne oder kleine Gruppen mit aktivem Gestaltungswillen zeigten – einige sangen Lieder, andere rezitierten auswendig große Dichter, wieder andere lasen eingeschmuggelte Bücher und nochmal andere spielten selbstgebaute Spiele wie Mühle, „Mensch ärgere dich nicht“ oder Schach miteinander – dort lebte etwas auf, was diese Menschen die äußere Enge und besonders das Empfinden von Endlosigkeit besser aushalten ließ.
Der Mensch gestaltete, machte etwas aktiv und unterbrach damit das Gefühl, einer Macht ausgeliefert zu sein, die mit ihm machte.
Nach dem Krieg forschte Frankl mit seinen Kollegen weiter und übertrug diese positiven Erfahrungen aus schlimmsten Zeiten auf Menschen, die in Krankenhäusern, in Heimen lebten, in Lagern. Auf die, die zuhause mit einer lebenslangen, end-losen Krankheit leben.
Kern und Auswirkung der Erkenntnisse dieser Forschung: Wer in einer ihm endlos erscheinenden belasteten Zeit lebt und eine Gestaltungsaufgabe übernimmt – heutzutage einen Song, eine gute Geschichte, ein Kasperletheaterstückchen, ein häuslicher Tanz, Fitnesstraining – , der gestaltet etwas, was auf die Psyche sensationell wirkt: Wer selbst einen Anfang gestaltet, eine Mitte und EIN ENDE – unterbricht eben selbst die seelengefährdende Endlosigkeit. Und sei das Liedchen noch so klein oder die per Skype oder am Telephon einander erzählte Geschichte oder der Sitztanz noch so kurz oder die geschriebene Postkarte mit nur wenig Wörtern schon voll – wir Menschen erleben das sichere Gefühl, etwas mit einem Anfang und einem Ende selbst gestaltet zu haben.
Nicht Corona macht mit uns, wir sind die Macher.

(Wer mehr wissen will in verständlicher Sprache: Viktor E. Frankl, „Zehn Thesen zur Person“, in: Ärztliche Seelsorge, Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, dtv)

07. April 2020

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