Ritual
„Die Kinder sind jetzt zu alt für Jule und sowas“, meinte Christine. Jule ist eine Stoffpuppe. Ihr Kleid trägt Jule über den geringelten zweifarbigen Strümpfen. Es hat viele Taschen, kleine, große, tiefe, flache, mit Oesen und Haken.
Jule reist bisher per Post zum 1. Advent zu den Enkeltöchtern, die an jedem Adventsmorgen eine Tasche plündern dürfen. Kleine Haarspangen, Glitzertattoos. Was für Mädchen eben.
Zu den Enkelsöhnen fährt Jul, das männliche Pendant. Die Taschen voll mit Süßem, Herbem, mit Coca-Cola-Geschmack, mit Kaugummi.
„Jetzt sind die Kinder zu alt für sowas“, wiederholte Christine und sagte das den Kindern.
Es gab keinen Laut der Enttäuschung, keinen Protest. Dafür brach Revolution aus.
„Ohne Omamas Jul und Jule gibts keinen Advent, wird nicht Weihnachten, wird nicht gesungen. Wir feiern nicht.“
Das war passiert: Jul und Jule waren Ritual geworden. Völlig unabhängig vom Tascheninhalt.
Zum Ritual wird eine Handlung, wenn sie zu bestimmten Zeiten wiederholt wird.
Mit genügend Bewusstheit wird jede morgendliche Begrüßung mit oder ohne Händedruck oder Umarmung ein Ritual. Rituale sind weltlicher oder religiöser Art und sie alle haben Anlässe (Begrüßung, Aufnahme, Entlassung, Jubiläum). Festliche wie traurige. Kleine wie große.
Ein festgelegtes Zeremoniell mit Ordnungsregeln führt zum Rang eines Rituals. Rituale werden älter und alt wie wir, die wir sie gestalten.
Jetzt häufen sie sich wieder zu Advent. Die Rituale. Eines der öffentlichen, großen geschieht abendlich in Uelzen. Das Fensteröffnen am Alten Rathaus. Sogar mit Engeln. Ein kleines bei Jule und Jul.
25. November 2025