Zeugnisse

Überall gab es jetzt Zeugnisse. Die Öffentlichkeit legte letzte Woche in Demos und Einzelinterviews Zeugnis ab über ihre Politiker. Und Lehrerinnen und Lehrer gaben ihren Schülern die Halbjahreszeugnisse aus.

„Lehrern ausgeliefert zu sein, kann schon furchtbar sein,“ sagte eine von den Frauen. Und die müssen es wissen. Sie waren alle Lehrerinnen. Vereinzelt sind sie es noch.

Wenn Lehrerinnen und Lehrer beliebt sind, ist das leicht erkennbar. Hörbar, sichtbar an den freudigen Grüßen über die Straßenseite rüber. In der Warteschlange an der Kasse. „Hu Hu, Frau…Herr…“.

Dann gibt es die Lehrer, denen der Schüler „ausgeliefert“ ist.

„Gertrud, dein Verstand passt in eine Streichholzschachtel.“ Tante Gertrud, Krankenschwester, trug bis zu ihrem Tod mit über 80 schwer an diesem Satz einer ihrer Lübecker Lehrer am Kathrineum. Und sie erwähnte den Satz bei unseren Treffen auf Hösseringens Bötzelberg und in Allenbostel immer wieder.

Solch Wiederholungen weisen auf die Schwere einer Kränkung hin.

Ganz jung ist die folgende Geschichte: Wolfhart bekam letzte Woche sein Zeugnis in der Grundschule. Wolfhart ist anders als sein Name vermuten lässt: Stiller, manchmal schüchtern, zärtlich – und zeigt dadurch Förderbedarf, dass er zwar prima lesen kann, aber nicht Vorlesen. Vor der Klasse.  

Wegen des Förderbedarfs werden den Wolfharts dieser Schulwelt auf der ersten Seite des Zeugnisses in den Bereichen „Fleiß/ Zuverlässigkeit/Teamfähigkeit“ keine Noten gegeben. Dafür ein kleines Gutachten.

Ich lese Gutes: „Wolfhart zeigt im Umgang mit den Schulmaterialien stets Verantwortungsbewusstsein. Hausarbeiten und Arbeitsmittel weist er meist vollständig vor.“ Soweit das Gute im Gutachten. Dann mutiert das Gutachten und wird im Schlusssatz zum Schlechtachten: „Trotz Unterstützung, Motivierung und Ermutigung ist Wolfhart, wenn er einen Fehler gemacht hat, in der Weiterarbeit problematisch. Deshalb ist diese kaum möglich.“

Was machen solche Worte mit der Kinderseele?

Auf der zweiten Seite von Wolfharts Zeugnis stehen Zensuren für die Leistungen in den Schulfächern. Eine einzige Drei. Der Rest nur „1“ und „2“.

Ich denke an meine Zensuren und an das „lieber Schwamm drüber“. Damals gab es noch Schwämme, die vergessen halfen.

Zurück zu den Anfängen dieser Kolumne, unsere Abgeordneten im Bundestag letzte Woche betreffend. Da zögert der „Schwamm“ zum Drüberwischen. Denn demokratisch gewählte Abgeordnete sind zwar nicht an die Bibel gebunden, aber an die (noch) gültige Ethik. Und die wird von der Moral reflektiert, die sie sich gegenseitig absprechen.

Am 23. Februar werden wir sie diesbezüglich zensieren. Unsere Abgeordneten. Sie und ihre Parteien.

4. Februar 2025