Von Weihnachts- und anderen Stollen
Ich habe in eine Familie geheiratet. Und mit dieser in den Osten. Daher kommt sie. Das war 1971.
Ich stellte mich „drüben“ im Elbedorf Glinde vor und damit auch bei Erni, berühmt für ihr Backen. Der schickten wir vom Westen aus Zutaten für ihren Weihnachtsstollen. Im Osten schwieriger zu kriegen waren: Zitronat, Orangeat, konzentrierter Zitro-Saft, Rosinen, Nüsse. Die gute Butter machte Erni selbst. Solange Kühe da waren.
Das „Nach-drüben-Schicken“ kannte ich bestens. In der Adventszeit gingen serienweise Päckchen in die „Ostzone“, dann in die DDR. Doch bei Erni lernte ich um: Wir schickten ihr die Zutaten - sie einen Stollen. Ein „Gedicht von Stollen“ sagte Christine und geizte mit den Scheiben.
Im Grunde war Ernis Stollen eine frühe Vorform der Wiedervereinigung. Westliche Zutaten zu östlicher Gestaltung. Auf gustatorischer Ebene.
Johannes in München, ein Neffe von Erni, erbte Ernis Stollen-Rezept und backt den Stollen nach. Jedes Jahr. Das Glück für die weitere Familie: Er backt sieben Stück von diesem Gebildebrot. Klar, dass er es mit den Zutaten einfacher als Erni damals hat. Die Wiedervereinigung ist ebenso selbstverständlich geworden wie der Kauf der Zutaten in München. Hannes googelt, studiert Prospekte, wo es was gibt und klapperte die Spezereien-Geschäfte ab. Bis Eva, Hannes` Frau, ihn darauf aufmerksam machte, dass Kaufland alles unter einem Dach hat.
Das Kaufhaus bietet auch einmal wöchentlich Sonderangebote. Gute Butter. Unter 2 Euro! Hannes fand alles, nur das Regal mit bester Butter unter 2 Euro war leer.
Am nächsten Morgen stand er zur frühestmöglichen Zeit um 8 Uhr vor dem Kaufhaus. Aber kein Sonderangebot mehr. Gute Butter ja. Aber teuer. Hannes dachte an Erni mit guter Butter. Er kaufte. Und kochte innerlich. Jetzt backt er trotzdem und wir hoffen.
Die Vorformen versuchter Wiedervereinigung vollzogen sich vor dieser auch, als ganz andere Stollen entstanden: unter der Erde. Flucht-Stollen von Ostberliner Seite aus.
Wie jedoch kommt das Christuskind zum Stollen? Eine Erklärung (nach Chatrin Rosenmeier): Zunächst war der Stollen recht ärmlich: Ein Fastengebäck. Das später weiß gezuckerte Äußere erinnert an das in Windeln gewickelte Kind. Oder sprachgeschichtlicher: Stollen ist eine Variante von „Stulle“ und die bedeutete „Stück“. Die Zutaten von Hannes Stollen kamen erst später.
Eines aber ist sicher: Jeden, egal, was er glaubt oder weiß, erinnert der Stollen an Advent und Weihnachten.
Erni ist jetzt 94 und liest seit langem nicht mehr selbst. Christl wird ihr diese Kolumne vorlesen. Trotz der Stressoren, die Christl`s mit ihrer Rinderzucht lebt und deren Fleisch zum Fest auf vielen östlichen und westlichen Tellern landet. Wie einst Ernis Stollen.
3. Dezember 2024