Peenemünde auf Usedom

Dort saßen wir. Hunderte. Eng bei eng.

Die einen hielten Ohren und Augen offen. Die anderen nur die Ohren. Und alle ihre Torflügel zu ihren Seelen- und Geisteslandschaften. Und in die floss die Musik des NDR-Symphonieorchesters. Chopin. Klavierkonzert e-Moll. Es ließ die Flügel durch den Flügel schwingen.

Ich traute mich nicht, in Christines Gesicht und das der Nachbarinnen zu schauen. Sie schauten ja auch nicht mehr. Sie flogen bereits. In Welten, für die wir Menschen das Wort vom Paradies nutzten und nutzen, um Sehnsucht auszudrücken.

Ich gehörte zu denen, die sahen und hörten. Zu denen, die starrten und erstarrten. Wegen  dieses Raumes, in dem sich diese Musik ausbreitete. Die Erstarrung kriecht von der Hallendecke über deren Seiten den Boden entlang. Was ist der Sinn, einen Ort des gewesenen Schreckens mit solch Musik zu verbinden? Das Paradiesische mit dem Bösen.

Halle und Gelände waren der Geburtsort der V–Raketen.  Werner von Braun und sein Team entwickelten sie hier während des 2.Weltkriegs. Als Siegeshoffnung - je mehr die reale Möglichkeit dazu sich zurückzog. Die Raketenbauer planten noch viel mehr. Auch Raketen kriegen Kinder und Enkel. Die von damals ließen bereits die City von London und andere Häusermeere zusammensinken.

Werner von Braun und sein Team wurden nach der Kapitulation umworben von den Siegermächten wie Kleinode. Um sie wurde gefeilscht, angeboten und verhandelt. Oder schlicht gefangengenommen. Familiennachzug und gutes Leben garantiert. Nicht erst im Jenseits.

Rostropovitchs Cello an der Berliner Mauer, Menuhins Geige im Nachkriegsdeutschland, Barenboims Orchester, das Israel und Palästinas Zukunftshoffnung spielte, die ukrainisch-russische Musik-Studierendenvereinigung in Hamburg – es geht und sie ist immer: Die Verbindung vom Schrecklichen mit dem Paradies. Peenemünde und Chopin, Debussy.

„Die Hölle – das sind die anderen“ (Jean Paul Sartre). Er ist nur einer von Unzähligen, die Anlass sind für das Nachdenken über uns Menschen.  

„Ist das toll gebaut!“, hörte der Junge am Strand von Usedom das Lob für seine kunstvolle Frühherbst-Sandburg. Er strahlte. Und zerstörte sie in Sekunden.

Wiederaufbau ist immer möglich. 

Im Hafen von Peenemünde lagen sie seit Anfang der 60er Jahre zusammen. Das russische U-Boot, Boote der DDR-Kriegsmarine, dann diese mit Booten vom Gesamtdeutschland. Verbunden durch den zeitlosen Fischbrötchen-Kiosk. Die Gemeinschaft ehemaliger und gegenwärtiger Feinde liegt nach wie vor dort zusammen. So eng wie wir saßen. Im Schreckensraum mit Chopin.

Beim Schreiben zuhause zittern die Fensterscheiben, weil Rheinmetall Rohre einschießen muss.

22. Oktober 2024