Auf der Mauer, auf der Lauer…

Das hinreißende Lied von der Wanze hätten wir wahnsinnig gerne selbst geschrieben. Wir zwei. Wir kannten uns vorher nicht, aber jetzt besser als viele, die sich lange kennen. Auch wegen der Wanzen.

Mein Nachbar sah sie zuerst. Auf keiner Mauer, sondern auf dem Fußboden vor sich. Ich drängte keine Hilfe auf, weil ich mit leichter Arachnophobie zu tun habe. Zu deutsch: Spinnenphobie Ich überlasse das Leben der Spinnen Christine. Sie rettet solch Leben vor mir.

Der Nachbar fing die Wanze nicht allein, sondern zunächst mit einem herbeigerufenen Mitarbeiter, der an mir vorbeistürmte, einen langen Stil mit Plastikaufsatz vorne. Der Mitarbeiter war eine Frau und rettete auch gern Leben.

Dann Wanze Nr. 2. Sie überquerte das große Fenster diagonal. Mein Nachbar betätigte sich allein als Kammerjäger mit vorsichtigen Fingern und Toilettenpapier. Wanzen sind hexapodale Schöpfungsgenossen, also sechsbeinig. Und diese Wanze behielt auch alle sechs bei. Denn mein Nachbar griff sie vorsichtig und renaturierte sie auf den Balkon. Ich bewunderte ihn. Und neidete ihm den phobielosen Umgang mit dem Fremden.

Ich war allein im Raum, als Wanze Nr. 3 ihren Weg auf der anderen Fenster-Diagonale begann. Ich sah die Chance der Selbsttherapie. Außerdem gab es nun Vorbilder mit Modellverhalten. Wenn es schief ging, kriegte das keiner mit. Ich wendete Gelerntes an: Toilettenpapier, Einschätzen des Kriech-Tempos, Zugriff. Der kleine Körper zappelte kaum. Balkontür auf, loslassen und rasend schnell wieder schließen.

Ab jetzt bin ich auch Vorbild. Für mich.

Wir fingen insgesamt neun Wanzen. Die meisten er. Als zuletzt zwei Wanzen sich gleichzeitig in aller Transparenz auf dem Innenglas zeigten, meinte mein Nachbar, dass die wohl eine Paartherapie bräuchten. Denn er ist auch Therapeut.

Das Zimmer, die Heteroptera (so heißen Wanzen offiziell), mein Nachbar und ich als Patienten sind Teil einer Klinik mit gutem Leumund. Umgeben von Wald. Weshalb Untergruppen der Heteroptera auch Waldwanzen heißen. Unsere waren nun von der Klinik fasziniert.  Zur Klärung: In einem Waldhaus Waldwanzen zu haben ist normal, keine Hygiene-Gefährdung. Und sie beißen auch nicht.

Anders als diese verbindenden Tierlein ist die Wanze in autoritären Staaten oder demokratisch legitimierten kriminologischen Akutsituationen. Eindringlinge sind sie beide. Aber diese Heteroptera spionieren nicht den Menschen aus. Dafür nutzen Menschen untierische Wanzen und erzeugen damit Triggerreaktionen, gar Traumata der ausspionierten Mitmenschen.

Seht Euch mal die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann. Dem Nachbarn danke ich Modellverhalten. Der Klinik nicht nur die medizinischen Behandlungsschritte, sondern ab sofort meinen souveränen Umgang. Mit vorher nur Befürchtetem.

15. Oktober 2024