Henriette
Henriette erinnert mich an Maria. Als die in die Jahre kam, etwa 11 oder 12 Jahre, verstärkte sich der Eindruck ihres Prinzessinnen-Daseins. Sie handelte bei ihren Eltern mehr Geld für Kleidung aus, als die ältere Schwester erhielt. Sie ließ sich umsorgen vom Vater, verteidigen von den drei Brüdern und in der Tanzstunde waren die Jungs hinter ihr her. Ihr Lieblingskleid: hellbraun. Mit weißen Tupfern.
Die Henriette, die ich jetzt kennenlernte, steht in der Herde von Galloway- Rindern hinten im Vogtland, also noch Thüringen. Gleich dahinter die Tschechei.
Die Herde gehört Christel, Christines Nichte. Die Edelrinder hören auf Christel. Sie hat die Tiere gezüchtet. Was immer auch heißt: erzogen. Sehr gut erzogen. Das bewiesen die Bullen, als sich eines Tages Henriette aus dem Grenzbereich zur Tschechei zu ihnen gesellte.
Henriette ist ein Damtier. So heißt weibliches Damwild. Hellbraunes Fell mit weißen Tupfern. Wie Maria damals. Und so wie Maria damals die Brüder und den Vater instrumentalisierte, prägte Henriette die höflichen Bullen.
In kürzester Frist ließen diese die Henriette nicht nur in der Herde mitleben, sondern schützten sie wie große Brüder. Wenn ein fremder Mensch oder gar ein größerer Hund oder ein anderes Wildtier sich den Tieren näherte, stellten sich die Bullen um Henriette.
Sie würden sie im Ernstfall aktiv verteidigen. So wie auch Christel von Wolfgang verteidigt würde, ihrem Mann. Der ist praktischerweise Veterinärmediziner. Von wegen zusätzlicher Betreuung der Herde.
Aber wer nimmt es schon ernsthaft mit Bullen oder Wolfgang auf, der sich zudem außer um Tiere zusammen mit Christel um seine Schwiegermutter Erni und die kleine Kirchenorgel nebenan sorgt. Wenn sie mal versagt. Die Orgel. Christels Herzlichkeit versagt nie.
Was lehren uns Henriette und ihre Schutztruppe? Auf den ersten Blick ist sie mit den Bullen ein Beispiel für friedliche Koexistenz. Auf den zweiten Blick kann der Schwächere sehr wohl mit Stärkeren zusammenleben, was UN-Charta ebenso wie das Neue Testament empfehlen. Der dritte Blick: Die Tiere der alten Fabeldichter wie die des griechischen Dichters Äsop oder die des jüngeren La Fontaine oder noch jünger die von Walt Disneys Micky Maus-Familie sind immer auch Erziehungsversuche gewesen: Wenn wir Menschen in unserer Welt schon nicht von Menschen lernen, dann vielleicht von (einzelnen) Tierwelten.
„Wir essen gerade Fleisch von einem von Henriettes Beschützern,“ sagte Christel beim Festmahl. Und ich erinnerte mich an Christian, einen Schlachtermeister: „Sanfter Tod – zartes Fleisch.“
Schließen wir hier mit der Vermutung, dass Henriette nie auf einem Teller landet. Glaube ich.
16. Juli 2024