Die Suche nach Grenzen

Beim diesjährigen Sommertreffen der Bundespolizei am Hainberg im Juni saßen wir auf zwei bayerischen Sitzbänken zusammen und gegenüber. Diese Sitzart macht bekanntlich ohnehin sehr gutes Speisen und Trinken noch besser – und Gesprächsthemen noch tiefer.

Wir: Ein Hauptkommissar aus Rostock, ein Staatsanwalt aus Lüneburg, eine Schulpädagogin, ein Psychotherapeut. Weiter oben am Tisch zwei Interessierte mit noch mehr Sternchen. Die Bundespolizistin am meisten.

Das Thema: Aggression. Genauer, die destruktive Sorte. Anlässe dafür: Die Konfrontationserfahrungen meines Nachbarn, Hauptkommissar. Der kommt von aktuellen Demos, fährt zu nahenden Fußballspielen, kontrolliert an den Grenzen. Es sind gleiche Destruktionen, mit denen die Strafprozesse gefüllt sind. Beim Staatsanwalt gegenüber. Und die gleichen, die zur Verrohung auf Schulhöfen in Großstädten führen (die Pädagogin). Zur Zunahme der Angststörungen (der Therapeut).

Bei solchem Thema zwängt sich einer der Nachtgedanken von Heinrich Heine auf: „Denk ich an Deutschland in der Nacht – dann bin ich um den  Schlaf gebracht“. Aber wir wollen nicht klauen.

Zwischen Burger und Bratwurst, Bier und Selter wird ein Papier auf dem Tisch platziert und darauf Linien gemalt. Aufwärtslinien für Staubildung. Und Linien dafür, wie die Staus sich entladen. Geplant kanalisieren lassen. Oder wie sie Dämme brechen. In einzelnen Menschen. In Gruppen. In unserer Gesellschaft und überhaupt – wo nicht?

Die einen am Tisch lernen Strategie-Probleme kennen, die anderen juristische, die dritten pädagogisch-psychologische. Und alle erinnern sich daran, gelernt zu haben, dass der Mensch auch mit destruktiven Anteilen geboren wird. Er, wir gehören zur Natur. Fressen und gefressen werden. Solange bis er Grenzziehung kennenlernt. Lehrbeispiel Fußball, der derzeit unsere zerfleddernd wirkende Demokratie eint und Kanäle für Affekte bietet.   

Aggression kommt vom lat. aggredi – aufeinander zugehen. Wir trafen uns hier am Tisch auch von Aggression gesteuert, von der Kraft des Aufeinanderzugehens. Höflich. Bis freundlich. Manche noch mehr.

Herfried Münklers Schinken „Marx, Wagner, Nietzsche“ analysiert, was sich nach Jahrzehnten Stau unter Feudalismus und Autoritarismus 1789 in der französischen Revolution entlud. Und ansteckte. 1848 in Deutschland, dann zwischen Nationen 1869 und 1870/71. Dann erdteilübergreifend in den Weltkriegen. Zwischendurch die Rettungsversuche durch die Epoche, in der die Goethes und Schillers anstelle von Macht die Kultur und Geistigkeit vorschlugen…

Ach ja. Ach je. Solch Tischgesellschaft kann nie viel gegen die Verrohung um uns (und in uns) tun. Aber jeder etwas. Ein Prosit auf die Hoffnung im Kleinen. Auf die jeweiligen Sieger und anständigen Verlierer im jetzigen  Fußball. Und  auf die Bundespolizisten von unserem Tisch und überhaupt. Pro sit heißt „es möge nützen“. Es kann auch dem besserem Schlaf als dem von Heinrich Heine nützen.

02. Juli 2024