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„Wieviel ist es bis achtzehn Uhr?“
Die Frage troff vor Ungeduld. Sie wehte vom Nachbargrundstück unserer Gastgeber bei Melbeck in unsere Ohren. Dort bekam ein Kind offenhörbar Nachhilfeunterricht von seiner Mutter. Englisch. „Twenty minutes“, antwortete sie und unterrichtete weiter.
Von dieser Melbecker Terrasse lässt sich kein Gespräch überhören. So hörten wir die nächste Frage auch mit. „Wieviel ist es jetzt noch - bis achtzehn Uhr?“.
Als die Mutter „Please in English. Ten minutes“ antwortete, kippte die Stimme des Jungen von Ungeduld in Angst. „Der Anpfiff, Mama, der Anpfiff! Um sechs!“
Ach richtig. Deutschland gegen Ungarn. Die Völker hörten die Signale und machten sich auf zum nächsten Angriff. Anpfiff. Mutter und Kind verschwanden pünktlich genug in ihrem Haus.
Wir sind nur lose Fußballinteressenten. Dafür fahren wir ähnlich Rad so wie andere ihr Feierabendbier trinken. Oder den Rasen mähen. Während also die deutschen und ungarischen Füße wirbeln, fuhren wir auf entleerten Straßen nachhause, holten die Räder raus.
Auch bei uns kein Mensch auf der Straße. Nur eine schwarze Katze in Bode auf Höhe von Brüggemann. Von rechts nach links. Höchstens fünf Autos auf der Kreisstraße Wriedel – Ebstorf. Höchstens.
Wieder zu Hause teilt das Handy mit: 2:0. Für uns!
Zurück zu jenem Jungen in Melbecks Nachbargarten: Der Junge hat Sigmund Freud und dessen Denken zu Ritualen begriffen. Mindestens im Gefühl: Ein Ritual braucht einen pünktlichen Anfang, eine strukturierte Mitte und einen entweder emotionalen Schlusspunkt in gemeinsamer Trauer. Oder im Hochgefühl des Sieges.
Der Junge nebenan zeigte uns: Wir sind Banausen. Man muss Großes von Anfang bis Schluss erleben. Und nicht einfädeln, wann man will. Christine und ich kamen bisher meist erst nach 1, 5 Stunden ins Spiel. Denn erst dann – Pause eingerechnet – kommt das Entscheidende. Und zugehörigen Mitgefühlen. Sieg oder Niederlage.
Der Tag hatte begonnen damit, dass ich ausnahmsweise in der Zeitung die erste Seite vom Sportteil las. Titelzeile. „Emotionsdusel trägt dich nicht“. Thomas Müller im Interview.
Christine mag ihn. Ich frage, was hat der gegen „Emotionen“? Wie würden denn er und alle anderen Fußkünstler kicken - ohne Begeisterung und Trauer im Stadion? Vor den heimischen Fernsehern? In uns? Cool is all?
Psychologisch steigert Ritual unsere Bewusstheit. Der Melbecker Junge nebenan hat die Ritualpsychologie im Bauch. So wie die Fußballer ihre Kunst in Füßen.
25. Juni 2024