Verführerische Arbeitgeber
Nein, es geht nicht um schlimmen Missbrauch durch Kirchen – u.a. männer. Es geht um die wundersame Welt heutiger Ausbildungsanfänger, Arbeitnehmern überhaupt. Denn die Arbeitgeber von heute reißen sich um sie.
Während es früher hieß, „dass er/sie froh sein kann, dass sie/er eine Ausbildungsstelle, eine Arbeit bekommt“, heißt das heute in immer mehr Stellen-Anzeigen so:
„Wir warten auf Sie! Wenn Sie zu uns kommen, bekommen Sie 30 Tage Urlaub, natürlich zusätzlich zu allen Feiertagen. Sie bekommen Boni-Zahlungen, Urlaubsgeldzuschuss, Zuschüsse für Ihre Krankenversicherung, für Ihre Renteneinzahlung. Wir vermitteln Ihnen gewünschten Wohnraum und ggf. KiTa-Plätze. Und wenn Sie eine Familie gründen wollen – wir sind an Ihrer Seite!“ Das habe ich wörtlich abgeschrieben aus 5 Anzeigen aus Handwerk, Handel, Industrie, sogar Pflege und einzelnen Behörden. Konkurrenz einmal anders…
In einigen supermodernen Anzeigen kriegt dieses neue Kind unserer Zeit auch einen deutschen Namen: Work-life-balance, was so viel wie gut balancierte Zeit für Freizeit und Arbeitszeit heißt, jedoch Freizeit und Geld als Lockvogel nutzt.
„Bewerben Sie sich, schauen Sie sich uns an, wir werden Ihnen zusagen…“
Die Philosophen unserer Mütter- und Vätergeneration Theodor Adorno und Max Horkheimer dachten in einem Gespräch den Gedanken an, dass die Freiheit dem Menschen winke, wenn er nicht arbeiten muss…
Näher sei hier auf ihre Dialektik nicht eingegangen, sondern auf den gestrigen Tag: Den 1.Mai. Der war – auch früher - als höchst bemerkenswerter Tag gefeiert worden, weil die Arbeit gefeiert wurde.
Wenn das so weitergeht mit dem verzweifelten Suchen nach Menschen, die Arbeit annehmen wollen, heißt der 1. Mai eines nicht so fernen Tages „Tag des Gedenkens an Zeiten der Arbeit“. Oder gleich „Tag der Freizeit“. Denn Life nimmt zu, work nimmt ab. Wir planen schon die Vier-Tage-Woche.
Überhaupt – was für ein Wort: work-life-balance! Ich für mein Teil plante mit Christine vor 54 Jahren den ersten gemeinsamen Urlaub (der kommt wortstämmig von „er-lauben“) und unsere Heirat erlaubte ihn nun.
Damals nahm sie nur leicht erstaunt zur Kenntnis, dass ich immer Arbeit mitnehme. In Wochenenden, in Kurzurlaube, in Langurlaube. Immer. Weil ich - und nicht nur ich - Arbeit so liebe, dass ich keinen Tag ohne sein will.
Wir einigten uns damals fürs Leben: Zwei bis drei Stunden work und der Rest life. Bzw. zwei bis drei Stunden life und der Rest work. Nein, ich irre mich schon wieder, denn da kamen noch die Kinder und heute die Enkel. Aber die sind eben auch (manchmal) Arbeit. Ebenso schön, wie die andere Arbeit.
Die, die wir gestern hätten feiern sollen. Wenn der 1. Mai nicht frei wäre.
1. Mai 2023