„Das ist ja unglaublich!“
„Unglaublich“ rief der joggende Herr - etwas aus der Puste – als er uns auf einem der Wege entgegengelaufen kam. Er hatte Christine und mich stehen und auf das Schild starren sehen.
Meist, wenn Menschen an einem Ort stehenbleiben, an dem sonst gegangen wird, und nicht sehen, sondern starren, bleiben auch andere stehen.
Meist, wenn der Mensch das Wort „Unglaublich!“ ausspricht oder gar ruft, nimmt sein Sensorium genau dasjenige gerade wahr, was er mental nicht glauben will, obwohl sich das Unglaubliche vor seinen Augen ereignet. Oder an einer Ohrmuschel, in die ein anderer gerade was Unglaubliches flüstert und was kein fake ist.
Dasselbe machen wir mit dem Wort „Unwahrscheinlich“. Da streiten wir unbestreitbare Reize ab und verweisen sie in das Reich des Scheins. Unwahrscheinlich!
Dasselbe mit dem Wort „Unmöglich!“, was wir ausrufen, wenn das Unmögliche gerade vor Auge, Ohre, Nase oder auf der Haut möglich wurde.
Der Herr, der nicht mehr joggte, stand vor demselben Verkehrsschild wie wir - mitten in der Natur. Durchfahrtsverbot. Weißer Kreis mit rotem Rand. Absolutes Durchfahrtsverbot.
Hinter dem Schild, schon in der Verbotszone, stehen zwei Autos. Eins ist unseres, das zweite gehört dem Herrn.
„Hab ich überhaupt nicht gesehen,“ selbstkritisiert der Herr und bewegt statt seiner Beine den Kopf hin und her. In nahezu derselben Wechselfolge wie vorher seine Laufschritte.
Ein Hintergrund solcher Totalblindheit ist die berüchtigte Konditionierung. Da wir so oft da lang gehen – gehen und laufen gar nicht wir. Die Gewöhnung läuft und geht. Und übersieht ganze Welten von Veränderung.
Unter dem einen Schild steht ein zweites: Verbot für Fußgänger. Und Verbot für Radfahrer.
Tatsächlich ist die Brücke über den Bach weiter hinten auf unserem Stammweg kaputt. Christine war verbotenerweise da. Ich hielt Wache.
Imke, die im Ort nahe der neuen absoluten Verbotszone wohnt, weiß mehr: Ach ja, die Brücke ist gebrochen. Ein landwirtschaftliches Großgefährt sei wohl rübergedonnert. Mähdrescher oder sowas.
„Unglaublich!“, sagt Imke, „auch für Fußgänger und Radler?“
Alle Wege führen eben nicht nach Rom bzw. nach Wriedel rüber. Aber alle Wege führen immer letztlich zu Gebots- und Verbotsschildern.
Das Schild „Krieg führen verboten!“ gibt es nicht. Und wenn – wird es übersehen, weil wir das, was wir wollen, ausblenden. Als Putin Krieg begann, sagten unglaublich viele Menschen: „Unglaublich!“
Dabei war er schon da.
4. April 2023