Von Zeitsparern und Zeitklauern

Onkel Egon stieg – lang ist`s her – von seinem Fahrrad um auf ein Fahrrad mit gebrauchtem Maria-Hilfs-Motor. Um Letzteren in Gang zu bringen, musste Onkel Egon das Rad (Vorkriegsmodell „Wanderer“) anschieben und – wenn der Maria-Hilfsmotor ansprang – sich mühsam-jungenhaft in den Sattel schwingen. Oder es gab Hilfsbereite, die den bereits im Sattel sitzenden Onkel Egon anschoben. Starke Männer.

Wenn das Motörchen nicht ansprang – dann sollte Stoß-Beten helfen. „Maria hilf!“. Das gab dem Motor den Namen. Maria half durchaus. Manchmal.  

Der Werbezettel von 1953, der für den Hilfsmotor am Fahrrad warb, versprach: „Zeit sparen: Mir uns kommen Sie schneller an Ihr Ziel!“

Ähnlich wurde Jahrzehnte später geworben für Plätze im französischen Flieger „Concorde“. Noch schneller, höher. Und teurer.

Aktuell erinnert mein Laptop mich durch aufploppende Angebote weiterer Apps und Sonderprogramme daran, dass es - das Laptop - noch besser, noch schneller sein könne als bisher. Mit der oder jener Zusatz-App, mit Sonder-Links zum Zeitsparen. „Die 20 besten Tricks zum Zeitsparen…“. Ein Sparangebot von 5 gibt’s auch.

Bei näherem Hinschauen wird deutlich, dass die Mehrzahl der Angebote, Zeit zu sparen, Zeit klaut.

Was mich an den Vogel „Elster“ erinnert, dem ein Hang zum Klauen nachgesagt wird. Dessen Name wiederum erzwingt die Erinnerung an das ELSTER-Programm unserer Finanzbehörden. In denen ist nicht der verdächtige Piepmatz gemeint, sondern die ELektronische STEueRerklärung. Das Ei ausgebrütet haben nicht unsere regionalen Finanzbehörden, die mit lebendigen Menschen besetzt sind, sondern höhere, ganz hohe. Die wohl nur noch am Computer sitzen.

Die Beherrschung von der staatlichen Elster, versichert der Staat zu Beginn, sei übrigens einfach und im Vergleich zur papierenen Steuererklärung zeitsparend. Wenn man Elster denn kapieren könnte.

Ich kapierte nicht. Eine Anrufungschance der Mutter Maria kam nicht in Frage, weil diese mit Mammon nichts zu tun haben darf. Dafür ein Anruf beim Schwiegersohn Gilles, der beruflich mit Elstern jeder Art umgeht.

Wovon ich etwas verstehe, ist das Phänomen Zeit. Von der es verschiedene Sorten gibt: Die individuell, subjektiv empfundene (Hetze oder lange Weile), die intersubjektive (Zeitempfinden in Gruppen, Zweiergruppen der Liebe, größeren Gruppen, die wie jetzt in der WM in Katar oder Rüstungsindustrien im Wettkampf stehen), die historische Zeit (die man nur ungefähr bestimmen kann durch z.B. archäologische Funde). Allesamt sind verwandt und untrennbar.

Nur eines kann man mit keiner Zeit - sagen übereinstimmend tote Denker wie Heraklit, Plato, Leibniz und lebende Neurobiologen, Psychologen: Zeit sparen in einer Spardose. Was bei Zeitnöten hilft, ist bessere Strukturierung der überall gleichen Zeit. Maria hilf! - gegen diese Zeitersparniritis!

22. November 2022