Ursels Super-Sofakultur

Ursel und ihr Mann Jossa haben sich ein neues Super-Sofa gekauft. XXL. Und einen neuen Fernseher. Auch XXL. Fünfstelliger Preis.

Alles fand ich unnötig: Die bisherige Sitzgruppe war wie neu.

Ich sagte das mit dem Unnötigen laut und Christine setzte ihr Fußwerk unter dem Tisch in Gang. Sie zielt dann auf das eine oder andere Schienbein, unter gegebenen Umständen streichelnd. Unter anderen Umständen energisch stupsend. Jetzt waren es die anderen Umstände.

Ich beharrte auf meiner kritischen Haltung gegenüber den XXL-Neuanschaffungen, aber Ursel auch auf ihrer. Sie zeigte mir triumphierend die vier Knöpfe unter den Lehnen: Eine elektronische Steuerung für die Körperwinkel von Halswirbelsäule bis zu Knie- und Fußgelenken. Und: Per Bluetooth kann sie den Rahmen dieses Ungeheuers von Fernsehscheibe violett blinkend einstellen (für Horrorfilme), blassblau/rosa (für Liebe), blutrot (für historische Schlachten).

Jossa ist Fan von klassischer Musik. Klavierkonzerte rauf und runter. Der neue XXL-Fernseher sieht nah: Kameraeinstellung auf trillernde Finger, die eher an das Muskelzittern beim Tremor erinnern als an Genie.

„Kino-Atmosphäre im Wohnzimmer,“ jubelte Ursel. „Oder Shakespeare –Dramen mit den Besten der Besten!“    

„Mein persönlicher Konzertsaal – immer erste Reihe!“, schwärmte Jossa und erwähnte noch einen Knopf auf der Fernbedienung, mit dem er kleine Abstellflächen aus dem XXL- Paradies seitlich ausfahren konnte, um das Glas Rotwein für Ursel und sein Bier ohne Glas abstellen konnte. Plus Paprika-Chips (Jossa). Oder Nüsse (Ursel).

Ich begriff, warum die Kulturveranstalter überall vom Anfang des Endes der Kultur klagen. In Hansestädtchen wie Metropolen, vereins– oder staatsgetragen, vom Kellertheater bis zur Philharmonie – alles zählt leerer werdende Sitzreihen. Und wenn sich mal was füllt – dann ist der Grund, dass die oder der Künstler vom Fernsehen her bekannt sei. Oder der Nachbar im Laientheater mitspielt.

Klar, dass die Ursels und Jossas dieser Welt von Life-Kultur wegbleiben und sich die Stars gleich in XXL – Körperlage auf ihrer Super-Sofakultur reinziehen.

„So macht Kultur Spaß“, sagt Ursel. Sie startet den Fernseher mit Bildern, deren Messerschärfe das natürliche menschliche Auge nie so sehen kann. Im XXL-TV wird jeder Pickel ein Berg.

„Außerdem kann man sich nicht anstecken – Corona, Grippe und so.“

Kultur, meint Google, sei die „Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung“. Nun - derzeit geht die Kultur abwärts. In Liegehaltung. Wie Ursel und Jossa.

8. November 2022