Lilli Marleen und die Ukraine

Über Lilli Marleen schrieb ich an dieser Stelle, als ich unter der Laterne an der Rosenmauer in Uelzen stand. Gegenüber dem damals Corona bedingt geschlossenen Neuen Schauspielhäuschen.

Das Wissen der heutigen Kolumne verdanke ich großenteils Thomas Stegemann, der sich auch mit „Lilli Marleen“ als Beispiel für Musik im Krieg beschäftigte, aber weitgehender – bis hin zur Funktion der Musik im Angriffs-Krieg Russlands gegen die Ukraine

Stegemann, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie, studierte in Hamburg Musiktherapie und ist heute Professor für Musiktherapie in Wien. Meine Güte, wie erfreut solch ehemaliger Schüler und Student doch seine Lehrer und Professoren…. Jetzt schrieb er über „das Paradox, wie traurige Musik positive Gefühle auslösen kann“.

Kurze Erinnerung: Lale Andersen sang den Text zu „Lilli Marleen“ in die kriegerische Welt des 2. Weltkriegs. Sie sang ihn in die Herzen der Soldaten hinein – und zwar (fast) alle Grenzen überschreitend in die Herzen verfeindeter Soldaten. Geboren wurde der Liedtext im ersten Weltkrieg vom Schriftsteller Hans Leip, als dieser Nachtwache vor der Maikäferkaserne in Berlin schob. Die Töne dazu fielen Norbert Schultze 1939 ein. 1941 wurde das Lied durch das (deutsche) Belgrader Besatzungsradio ausgestrahlt und strahlte in die Soldatenherzen. Das melancholisch-sehnsuchtsvolle Lied („morbid und depressiv“ zürnte Goebbels Propagandaministerium) nistete sich derart ein in die heimwehkranken Herzen, dass ein Protesttsunami die Soldaten auf die emotionalen Barrikaden trieb, als ihr Lied aus dem Wehrmachtssenderprogramm herausgenommen wurde.

„Lilli Marleen“ erhielt nach dem Shitstorm einen festen Sendeplatz 21.57 Uhr. Die deutschen Soldatenohren klebten zu der Zeit ohnehin am Radio, weil vorher Frontbriefe verlesen wurden. Brücken zur Heimat…  

Wenn Regierungen etwas unterdrücken - kämpft es sich woanders durch. Besonders, wenn es sich um Geliebtes handelt.

So auch nach dem Verbot des Liedes: Denn jetzt wurde es auf den Seiten der Alliierten ausgestrahlt. Mit wechselnden Sängerinnen und Sendern und Wörtern. Die Töne wurden beibehalten…

Stegemann geht über die bekannte Liedgeschichte unter Rückgriff auf andere Forschungsteams hinaus. Er verweist auf die Reaktion beim Musikhören auf biologischer Ebene, psycho-sozialer Ebene (Stimmungsregulation) und kultureller Ebene (Berührtsein).

„Hedonic shift“ meint den Idealfall (wie bei Lilli Marleen): Bedrückende, „traurige“ Musik führt im Hörenden zu positiver Stimmung.

Musik gehört zur Kriegspropaganda. Immer. Auf allen Seiten. Jüngst ist es die Nationalhymne der Ukraine und das „ukrainische Gebet“. Mit denen als seelische Waffe dem Aggressor entgegengetreten wird.

25. Oktober 2022