Beten für einen Krieg?
Ich habe Post aus Russland. Und aus der Ukraine.
Sogar einige Psychotherapie-Kollegen gehen mit ihren Familien in die (orthodoxen, evangelischen, katholischen) Kirchen. Vereinzelt. Die meisten sind längst nicht mehr Mitglieder ihrer Kirchen.
Dort denken sie sich ihr Teil für den Krieg, auch wenn sie es in den Mails nicht Beten nennen. Schon gar nicht für den Krieg. Nur dagegen.
Hierzulande wird auch in den Kirchen gebetet. Für einen möglichst soliden Frieden. Ganz sicher nicht so wie heute in der Ukraine. Oder in Russland.
Oder 1916 bei uns. In dem damals dritten Kriegsjahr. Mit Waffen zu Lande, auf dem Wasser, erstmals serienmäßig unter Wasser und in der Luft.
Ich erbte unter den vielen Bibliotheksteilen einen schmalen Band „Die Feier der Nebengottesdienste“, was bedeutet, dass es Haupt- u n d Nebengottesdienste gab. Meine Güte - heute füllen sich unsere Kirchen nur gänzlich beim Weihnachtsoratorium. Oder wenn auf den Rasen vor den Kirchen kurzgepredigt wird und es vorher Frühstück gibt und hinterher Bratwurst.
Gedruckt wurde diese „Agenda“ für Nebengottesdienste bei Bertelsmann in Gütersloh im dritten Jahr des ersten Weltkrieges und herausgegeben und verlegt von der Lutherischen Konferenz in Minden–Ravensberg.
1916 – da lese ich auf den eierfarbenen, vergilbten Seiten keine Gebete für den Krieg, sondern „Gebete für Kriegsgebetstunden“. Darin wird für Kaiser, König und sein ganzes Haus, für seine Macht und seine Heere und den Sieg gebetet (wie in den heutigen russisch-orthodoxen Kirchen für Putin und seinen Sieg). Aber am Ende jedes Absatzes folgt das „erbarme dich“ und überhaupt ist der gesamte Tenor 1916 gedämpfter Trommelklang. Die kollektive gesungene, gebrüllte Lust auf Sieg von 1914 ist verkümmert angesichts der zunehmenden Siege auf den Seiten des Feindes, von denen es immer mehr gibt.
Einige Gebete beten – für den Feind. „Lehre uns auch dem Feinde gegenüber nicht vergessen, dass wir Christen sind…“
Ja, du liebe Zeit, wer betet denn sowas – heutzutage?
Je länger der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine dauert, füllen sich wieder Kirchen. Da, in der Ukraine, dort in Russland. Wo Putin den Patriarchen umarmt und für seinen Sieg ebenso betet wie in der Ukraine Selenskyj für den seinen. Letzteres ist aber kein Wissen.
Frieden ist nur die Abwesenheit von Krieg. Ich, geboren in den letzten Kriegsmonaten 1945, habe die Abwesenheit nicht gelernt. Schon gar nicht in Celle. In Uelzen hätte ich mehr in meinem ersten Lebens-Vierteljahr noch Granateneinschüsse, Bomben und Salven gehört. Ich bin mit der Abwesenheit des Krieges dann aufgewachsen, älter geworden, alt. Jetzt lerne ich Kriegsnachrichten. Für die Restlebenszeit.
16. August 2022