Unerbittliche Freundlichkeit

„Unerbittlich“ ist ein Wort, das schwindet, weswegen ich es vor seinem Tod würdigen will.

Wir kennen vom Hörensagenlesen mehr als aus Selbsterfahrung „unerbittliche Kälte“. Nun – mal sehen, was unsere Energie-Zukunft bringt. Auch „unerbittliche Strenge“ soll es mal früher gegeben haben (in Familien bis heute). Und Walter von Molo schrieb 1900 über die „unerbittliche Liebe“. Alles drei Situationen, in denen Bitte, Bitten, Betteln, Beten zum noch Schlimmeren führte. Meistens.

Was aber ist mit der „unerbittlichen Freundlichkeit“?

Ich frage Hermann, der er wissen muss: Ein ewig freundlicher, mindestens höflicher Mensch. Hermann bittet mich, mir einen bösen Menschen vorzustellen. Einen miesen Typen. In Köln heißt er fiese Möpp. Ein solcher Mensch intrigiert, schwindelt. Er lebt von Gerüchen aus der Küche der Gerüchte. Er lügt. Er ruft als falscher Polizist alte Damen an oder patscht Jungen irgendwohin.

Wenn er bei einer seiner Taten erwischt wird, für deren moralische Einstufung die deutsche Sprache früher das Wort „Un-Taten“ nutzte, dann breitet er dieses Panzerknacker-Lachen in seinem Gesicht aus („Har-Har“).

Wenn er mal erwischt wird, nuschelt er etwas in sich hinein von „Missverständnis“ oder „wusst‘ ich nicht“. Das ist sein Höchstmaß an Selbsterkenntnis. Ansonsten versteckt er sich hinter den verschränkten Oberarmen.  

Sein „Har-Har“-Panzerknacker-Lachen ist aber nicht die unerbittliche Freundlichkeit, die ich heute meine.

Die unerbittliche Freundlichkeit gehört zu Hermanns Waffensystem. Die unerbittliche Freundlichkeit zeigt sich, wenn Hermann diesem anderen Menschen in einer Podiumsdiskussion begegnet. Oder in einer Kirchensynode, einer Fraktionssitzung oder in einem Gerichtssaal. Das sind voraussehbare Begegnungen. Bei Aldi oder an der Tankstelle begegnet Hermann diesem Menschen zufälliger.

Was macht Hermann? Er grüßt. Unerbittlich freundlich. Mindestens höflich. Wenn wir in einer gesellschaftlichen Rolle leben, die vom Prinzip her (principium, lat. der Anfang) zur Freundlichkeit verpflichtet ist, dann prägt sie sich aus. Diese unerbittliche Freundlichkeit.

Stimmen sammelnde Politiker in der Fußgängerzone zeigen diese unerbittliche Freundlichkeit auch. Bis zum bitteren oder siegreichen Ende des Wahlkampfs. Geistliche, Beraterberufe sind auch gefährdet.

Ich kenne Hermanns Frau. „Ich könnte Hermann“, sagt sie, „manchmal umbringen. Mit seiner unerbittlichen Freundlichkeit.“

Christine weiß schon, wie gut sie es mit mir hat. Und ich, wie sicher mein Leben bei ihr ist.

28. Juni 2022