Wilde Ehe
Michael und Uschi wirkten bisher auf mich eigentlich bürgerlich-liberal-verlässlich. Beide bildeten unzähligen Nachwuchs im Schuldienst mit der maximal möglichen Dienstzeit aus. Bis zum 65. Lebensjahr. Der eigene Nachwuchs war zählbar. Zwei. Auch schon mit Nachwuchs. Ansonsten nichts Besonderes. Eigenheim mit Garten, Fitness-Center und beide lieben Golf (den in der Garage).
Aber wie man sich irren kann: Die beiden sind nicht ordentlich verheiratet, sondern unordentlich. Wilde Ehe sozusagen und der Hammer: Die beiden wussten das nicht.
Michael deckte den Skandal bei der Vorbereitung der Goldenen Hochzeit von Johannes und Uschi auf. Michael ist der befreundete Geistliche, der die Andacht in derselben Barockkirche halten sollte und wollte, in der Johannes und Uschi vor mehr als einem halben Jahrhundert getraut wurden.
„Was hattet Ihr für einen Trauspruch?“, fragte Michael den Johannes und die Uschi. Doch die schluckten stereo. Nachdenken half auch nichts.
„Der steht im Stammbuch“, half der erfahrene Freund weiter. Und das hatten die beiden denn immerhin. Jedoch - im Stammbuch stand kein Trauspruch. Es stand auch keine Unterschrift des damaligen Geistlichen im Stammbuch.
Uschi – normalerweise sehr klar artikulierend – murmelte, dass ihr Onkel sie getraut hätte. Aber der liebte Predigen und Seelsorge weit, weit mehr als Bürokram. Seine Gemeindesekretärin war schon mal vor Dritten in Verzweiflungs- und Zornestränen ausgebrochen. Weil ihr Pastor vor dem Überreichen der Konfirmationsurkunden eben dieselben zu unterschreiben vergessen hatte. Wie in Johannes` und Uschis Stammbuch.
Michael tröstete das Goldene Paar, das kirchenrechtlich nun gar kein Goldenes Paar war. Sowas kenne er von seinem Vater. Wenn Verwandte taufen, trauen, beerdigen, passiere das immer wieder.
Michael blätterte im Stammbuch nach vorne, wo die standesamtliche Trauung vermerkt war, ohne die keine kirchliche Trauung möglich ist. Umgekehrt ja. „Holdenstedt, 12. März 1971“, las Michael, der Pastor, vor. „Da fehlen die Unterschriften der Trauzeugen“, sagte Michael, diesmal doch leicht erschüttert. Johannes murmelte jetzt auch. „Wir waren alle befreundet – der Bürgermeister mit seiner Frau als Trauzeugen und der Gemeindedirektor mit seinem Bürgermeister. Wir sind gleich essen gegangen…“
„Euer weltlicher Hochzeitstag war auch nicht am 13. März, wie Ihr mir sagtet“, sagte Michael, „sondern der 12. März“.
Johannes und Uschi begriffen jetzt, warum der heutige Bürgermeister ihrer heutigen Gemeinde ihnen eine Glückwunschkarte zum 12. März geschickt hatte. Was sie für einen Irrtum des heutigen Bürgermeisters hielten.
„Auf jeden Fall“, entschied Michael, der Pastor, „feiern werden wir Euch. Auch wenn es eigentlich eine grüne Trauung ist. Ausreichend vital dafür sehr Ihr aus.“
Na, ich werde sehen, wie er das macht, weil ich auch eingeladen bin.
24. Mai 2022