Liebesgeschichte im Mai

Merkwürdig ernst setzte sich der Sohn seinen Eltern gegenüber. So merkwürdig ernst, dass sich beide Eltern körperlich mit aufrichteten und seelisch einrichteten. Auf Besonderes.

„Ich werde Silvia heiraten,“ sagte der Sohn. Johannes heißt er.

Seine Eltern sahen sich an. Danach ihren Sohn. Der wirkte feierlich.

Die Eltern ließen den Augenblicken der Feierlichkeit ihren Raum. Dann räusperte sich der Vater von Johannes und begann vorsichtig damit, ob das nicht ein wenig zu früh sei.

Die Mutter von Johannes war noch behutsamer. Sie sagte mit ebenso deutlich bewegter wie zurückhaltender Stimme, dass dies eine wichtige Entscheidung sei. Mit die wichtigste überhaupt…,weil Liebe das Wichtigste sei. Johannes nickte halb an-, halb abwesend.

Psychologisch gesehen holte die Mutter von Johannes ihren Sohn zunächst „ab“. Dies „Abholen“ hat auch mehrere Namen. Z.B. das ISO-Prinzip („iso“, griech. meint „gleich“, meint das Einschwingen auf die emotionale Ebene des Gegenübers. Zwei Wissenschaftler schlagen sich darum, wer den Begriff einführte.

Johannes war solch Streit der Eitelkeiten egal. Er lächelte durch seine Eltern hindurch und wiederholte seine Worte vom Anfang.

„Ich werde Silvia heiraten.“ Johannes sagte sie mit jenem Ton, der seinen Eltern zeigte, dass seine Entscheidung völlig unabhängig von der Reaktion seiner Eltern war. Johannes liebte. So tief, wie der Mensch nur kann.

Einen Versuch der Realitätsanbindung gab es noch. Johannes` Vater strengte sich an, seine Stimme nicht angestrengt wirken zu lassen und wiederholte auch in aller Liebe seine Sorge. So früh schon ewig binden.

Johannes bestätigte in seiner Reaktion die stille Befürchtung der Eltern, dass seine Entscheidung unumstößlich sei. Er gab auch den ebenso schlichten Grund dafür an, welcher seit der Erfindung von monogamen Strukturen am überzeugendsten auf die Umgebung wirkt.

„Aber wo ich sie doch liebe…“ sagte Johannes. Mehr nicht. Er entließ die Wörter wie seine Liebe in die Ewigkeit und danach versank er wieder in sein weltentrücktes und weltentrückendes Lächeln.

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Diese Liebesgeschichte ist eine menschliche Ewigkeit her. Johannes war damals 12 Jahre alt. Seine Freundin Silvia auch. Geheiratet hat er eine andere.

Die Moral von der Geschicht: Die Liebes- und Glücksfähigkeit des Menschen hängt davon ab, wie der Mensch seine ersten Liebesbeziehungen erlebte (Mama, Papa, erste Freundin, erster Freund…). Johannes hat eine höhere Erfolgsaussicht als streitende Wissenschaftler. Denn er steckte mit seiner frühen Liebesgeschichte damals an. Und die Geschichte heute wieder. Unabhängig von Krieg und Frieden.

03. Mai 2022