„Keine falsche Bewegung“

Der Fuß des Turmes bestand aus faustgroßen Steinen, die die Gruppenmitglieder reihum draußen gesammelt hatten. Die erste Etage wurde gebaut aus stärkeren Ästen, Totholz mit Moos bewachsen - und einigen Farnbüscheln. Die Bewegungen der Menschen, die das Objekt bauten, verlangsamten sich, wurden vorsichtiger, je höher der Turm sich türmte. Die nächste Ebene waren geknüllte oder gefaltete handbeschriebene Wunschzettel, vermischt mit verwelkten Sonnenblumen. Noch höher stärkere Äste, die als Brückenpfeifer von oben in das Gebilde gesteckt werden. Über die wiederum feinere Zweige als Brücke gelegt. Eine Getränkedose mit Vogelfeder in dem Loch als Top. Die Bewegungen der gestaltenden Menschen waren noch kleiner geworden, noch vorsichtiger.

Keine falsche Bewegung. Sonst fiele der Turm zusammen.

Sowas wird in Studentengruppen erlebt, um anschließend über psychische Prozesse in Gestaltungen zu sprechen.

„Keine falsche Bewegung“ titelte der SPIEGEL letzte Woche - noch kurz vor dem Einmarsch der Putin-Truppen in der Ukraine. Gleich danach fiel der fragile Turm des Vertrauens in die Sicherheitsapparatur Europas in sich zusammen.

„Die Russen“ sind einmarschiert? Ich denke an meine Kolleginnen und Kollegen an den drei Universitäten in Russland, an denen ich seit 2007 arbeitete und noch arbeite. „Die Russen“ heute gibt es ebenso wenig wie „die Deutschen“ 1933-45. Es gab und gibt immer und überall Widerstand gegen Diktatoren. Bertolt Brecht: „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“. Hinzugefügt: der destruktive wie der konstruktive Mensch.

Ich denke jetzt an russische Studenten, deren Großeltern in der Ukraine leben. An die Mutter eines russischen Kollegen, dessen Mutter „drüben“ lebt. „Drüben“ – wie bei uns früher die DDR hieß, ist jetzt bei denen Ukraine. Ich denke an den Sprecher der Studierenden-Gruppe, der eine Ukrainerin heiratete und mit seinen Kommilitonen jetzt an Demonstrationen gegen den Krieg teilnimmt. Ich lese und höre via Zoom von der Angst, dass die jahrelang gewachsenen menschlichen wie fachlichen Beziehungen nicht nur ge-, sondern zerstört werden könnten.

Schon von Berufs wegen sind die meisten derer, die ich bis Februar 2020 in St. Petersburg vor Ort, dann durch Corona digital begleitete, politisch kritische Menschen. Ärzte, Psychologen, Therapeuten. Die in Orenburg, in Moskau, in Saratov – sie leben im und vom Austausch mit uns.

„Die“ Russen - die gibt es nicht.

Solch Turmbau wie der oben geschilderte, wird im Spiel einer bestimmten Kindheits-Phase deshalb gebaut, um ihn selbst zu zerstören – und neu aufzubauen. Immer wieder. Und um Frustrationen auszuhalten, wenn andere den eigenen Turm zerstören. Diktatoren kommen aus jenen Momenten der Zerstörungslust der Türme anderer nie heraus. Bleibt zu hoffen, dass der Turm des Kriegstreibers bald zusammenfällt, wenn der Wind von außen genug pustet. Mit Orkanstärke.

29. Februar 2022