Johannes und Maria
Johannes ist ein nicht nur von mir sehr geschätzter Kollege. Auch wenn er rumläuft wie Anno dunnemal: Immer im dunklen Anzug. Immer mit Weste. Daran genäht eine extra Uhrentasche, in der wirklich eine goldene Taschenuhr steckt, die er häufiger zieht als eigentlich nötig.
Ich schätze Johannes. Obwohl der „Schatz“, der in dem „geschätzten“ ja angetönt wird, überhaupt nicht zu seinem Habitus passt. Unser Kollege Johannes ist 1,82m lang, bewegt seinen schweren Körper langsam und ebenso seine Zunge. Dass er „druckreif“ sprechen kann – wie manche behaupten – hängt mit einem ziemlich kleinen Sprachschatz zusammen. Das kriegen aber die anderen im Vorstand nicht so mit. Die sprechen aus noch kleineren. Sprachschatzkästlein.
Kurz: Ein absolut seriöser Herr von Kopf bis Fuß und allem dazwischen.
Deshalb fiel ich aus allen irdischen Wolken, als ich die Frau vom Kollegen Johannes näher kennenlernte. Sie saßen bei uns auf dem Sofa. Er wie immer korrekt und steif. Seine Frau, Helene heißt sie, stellte er als „meine Gattin“ vor.
Helene ist ganz anders. Das Gegenteil. In allem. Total. Gegenwelt. Die Psychologie macht das „Gegen“ dann eher fest am Gegen-über und spricht da von „komplementär“. Einander ergänzend, kompletter machend. Eben komplementär. Wobei manchen der Begriff auch stört. Als ob man (frau) ganz allein offenbar nicht komplett, unvollständig sei.
Die Gattin lacht viel und gerne, redet noch mehr und schneller und begleitet das Ganze mit der Gestik großen Dirigierens. Temperamentvoll sagt man im Gebrauchsdeutsch dazu. Und so überschreitet sie alle Grenzen hin zum Intimen.
„Johannes hatte mal eine Freundin“, plaudert Frau Helene, als wenn nichts wäre. „Eine Nebenfrau. Maria hieß sie.“ Tatsächlich hatte ich im Büro von Johannes auch schon von Maria gehört. Leise. Nicht so laut wie bei Frau Helene.
„Die habe ich ihm ausgetrieben“, strahlt Frau Helene siegreich, “das ist lange vorbei. Sie lebt jetzt in Budapest. In Gedenken an sie decke ich manchmal ein Gedeck mehr am Tisch. Maria-Weiß-Service...“
O Gott, dachte ich. Gott, weil mir der Prophet Elias einfiel, für den die strenger jüdisch Gläubigen am Passafest einen extra Stuhl an die Speisetafel stellen. Außerdem entwickelte ich Mitgefühl mit Johannes.
Das alles war vor Jahren.
Inzwischen starb Frau Helene, weshalb wir alle mit Johannes mitfühlten. Ein halbes Jahr später zog Johannes von Hamburg weg. Weit weg. Richtig. Nach Budapest. Richtig. Zu Maria.
Ob er das getan hätte, wenn Helene nicht mit dem Gedeck dauerhaft an die Andere erinnert hätte? Die Re-Inszenierung von endlosen Schuldgefühlen schreibt Romane in endlosen Fortsetzungen.
08. Februar 2022