Evakuieren - und sein Gegenteil
Acht Jahre vor dem Abwurf der vermuteten Bomben unter den Erdschichten des Hundertwasser-Bahnhofsgeländes wussten die Herausgeber des Latein-Lexikons, die Professoren Hermann Menge und Heinrich Müller, natürlich eine Menge davon, was „Evakuieren“ meint: Evacuatio, lat. = Leere. Zusammengesetzt aus E (für Ex) und vaco = leer, frei, unbesetzt sein. Das Vakuum aus dem Physikunterricht lässt grüßen.
Die beiden Profs dürften auch durch die Zwangs-Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“ gewusst haben, dass Evakuierungen ein geplantes Mittel waren zur Erreichung der Ziele eines germanisch sauberen Großdeutschlands und seiner weltweit geplanten Gouvernements. Kurze Zeit nach ihrem Lexikon später begannen sie, die Evakuationen.
Nicht gewusst, geschweige geahnt haben die damaligen Herren, dass noch über 80 Jahre lang Evakuierungen geplant und teilweise durchgeführt werden müssen, weil die unerledigten Reste ihres Krieges gegen die nichtgermanische Welt unter der Erde bis heute schlummern – bis zu ihrer Entdeckung und damit auch Erinnerung an ihren Krieg.
Uelzen wäre durch eine zwangsweise erfolgte Evakuierung zum Schutz seiner Bürger stundenweise fast um 12 000 Menschen leerer geworden. Uelzen - ein Teil-Vakuum. Gott – oder an wen der freie Mensch von heute seine Emotionen adressiert - sei Dank, dass es bei der hochprofessionellen Vorbereitung so vieler Institutionen und deren Menschen blieb. Und viele Ängste und Sorgen vor den Folgen kontrollierter Detonationen pünktlich abgesenkt werden konnten.
Ich las die Frage in der Zeitung: Warum man diesen Wellen einer möglichen Detonation nun ausgerechnet parallel zu den aktuellen Wellen von Omikron ausweichen wollte. Der Sturm Nadja mit Orkanböen, die sich auch hier heimisch fühlten, war unberechenbarer. Aber das andere?
Ich bewundere, wie wir heutzutage den Resten der Wellen des 2.Weltkriegs begegnen können. Ich bewundere die Technik der Entsorgung.
Wichtiger sind die Reste, denen wir technisch nicht begegnen können. Die Erinnerung daran, warum die heutigen Evakuierungen dieser Art geplant werden müssen: die schwarz-weiß Bilder in dieser Zeitung von den Zerstörungen in Uelzen 1945. Und die Zahl der Toten und Verletzten im Begleittext, die die tragischen Schicksale stellvertraten. Zu ihnen gehören die Ängste bei heutigen Evakuierungen. Besonders die der Älteren und Ältesten von uns.
Das Gegenteil von Evakuierung? Es steckt in den verschiedenen Anschlussbedeutungen vom „vaco“ im Evacuare. Freie Zeit haben. Muße haben. Der Kalender zeigt Leere. Gönnen wir sie all denen, die die Fast-Evakuierung planten. Und hoffen wir, dass keine dabei sind, die sie lieber umgesetzt hätten. Die Planung war schon professionell genug.
01. Februar 2022