Zeitsprünge

Külliki, meine damalige Vermieterin in Estland, ist so jung wie ich, also älter. Noch sehr viel älter war damals ihre Mutter. Eine Dame, die ich mitten in ihrem großen Garten an den acht Bienenstöcken unter einem noch größeren Sonnenhut und in langen Hosen unter dem Rock kennenlernte.

Sie war eine beeindruckende Persönlichkeit, hatte beide Weltkriege durchlebt inclusive zweier Besetzungen ihres Landes durch die Sowjets, Vertreibung vieler ihrer Landsleute, die Aufbauarbeit mit ihrem Psychiater-Ehemann der Klinik. „Queen“ wurde sie genannt. Schon wegen der Altersverwandtschaft mit der englischen. Auf die Ferne hatte ich ihr irgendwann zwischenzeitlich einen sanften guten Tod gewünscht.

Eben diese Hoffnung schrieb ich nach den vielen Jahren jetzt an Külliki – und was antwortet diese: „Die Queen lebt doch!“ Sie habe wie immer im letzten Sommer bienenfleißig den Garten bearbeitet und ihre Bienen zu demselben angehalten. Nur jetzt gegen Ende des Jahres habe sie Nierenprobleme. Und schimpfe auf die Abhängigkeit von der Dialyse in der Kreisstadt.

Diese Queen von Estland lebt also wie die im großen Britannien. Eine Queen schon von wegen Körperhaltung, Alter und Disziplin.

Ich schreibe Külliki meine Betroffenheit zurück, ihre Mutter, die Queen einfach für gestorben erklärt zu haben. Ich entschuldige das mit meinem Zeitgefühl. Dies Zeitgefühl hat die Jahre seit der letzten Begegnung gedehnt, gestreckt, weil sie (zu) rappelvoll mit Ereignissen waren.

Unsere Vorfahren in der Antike und wir versehen die Zeit mit dem Symbol des fließenden Wassers in einem Fluss. Das Erleben dieses Fließens ist so vielfältig, wie die Menschheit Menschen zählt.

Tante Ulrike, die nur noch von ihrer Pension und ihrem Fernseher lebt, klagt, die Zeit stehe still, der Fluss dümpele. Trotz der schwer zählbaren Krimis, die sie wöchentlich mitsamt ihrem Rotkäppchen-Sekt verzehrt.

„Mein Herz ging früher in Sprüngen – jetzt geht es wie mein digitaler Nachttischwecker. Lautlos und ewig,“ schreibt sie im Familienrundbrief

Ich denke an die Strophe des Liedes „Mein Herze geht in Sprüngen – und kann nicht traurig sein“ (im Gesangbuch Nr. 351) – und an die Nachbarin im Schuldienst. Die klagt auch. Über das Gegenteil. „Woher nur die Zeit nehmen – Klassenarbeiten, Konferenzen, Vertretungen. Und zwei Söhne habe ich auch. In der Schule. Und zuhause…“

Zeit. Der Spruch „Tempora mutantur“ stimmt trotz seiner Inflation zweifellos: Die Zeiten ändern sich. Aber sie ändern uns immer mit. Besonders durch ihre Sprünge.

Jetzt verstehe ich, warum das nationale Getränk der Friesen immer mehr Fans hat. Nicht, weil man da Sahne und anderes Ungesunde reinmischt. Sondern, weil man links umrührt. Langsam. Bewusst. Gegen die Zeit.

11. Januar 2022