Glücklicher Neujahrsunfall

Zu Neujahr fällt er mir meistens wieder ein. Der Unfallarzt auf Zypern. Auf der Insel feierten wir - schon weit im neuen Jahrtausend – und da brauchte es einen Unfallarzt. Nicht so wichtig weswegen.

Seine Praxis atmete mehr die Atmosphäre einer Bibliothek als eines Behandlungszimmers. Er schriftstellerte nebenbei, was ja auch manchmal deutsche Ärzte tun. Das aber ist auch nicht wichtig. Wichtig war sein Name und ich hoffe allein um seines Namens willen, dass er noch praktiziert und dichtet. Egal was. Einfach, weil allein sein Name schon therapeutisch wirkt. Jedenfalls auf die, die um die Bedeutung seines Namens wissen.

Kairos heißt er. Mit Vornamen. Er wollte auch mit diesem angeredet werden. Dr. Kairos. Ohne seinen Nachnamen. Er wusste, wie das psychisch wirkt. Obwohl er auf der Liste der deutschsprechenden Ärzte für verletzte Touristen als Facharzt für Chirurgie geführt wurde.

Kairos (altgriech.) bedeutet nicht nur „glücklicher Augenblick“, den natürlich ein schmerzgeplagter verletzter Tourist im Augenblick des Betretens der Praxis nicht empfindet. Nicht sofort.

Viele glückliche Augenblicke empfanden die damals Silvester/Neujahr feiernden Mit-Touristen im Hotel auf ihrer Neujahrsparty. Sie erhofften - wie alle Menschen seit es Neujahrsfeiern gibt - eine Menge glücklicher Augenblicke vom neuen Jahr. Christine und ich hatten uns von den glücklichen Augenblicken im Hotel abgemeldet zugunsten einer kleineren Serie leiserer glücklicher Augenblicke zum Jahreswechsel. Am Strand. Wo auch Steine liegen, über die der Hans-guck-in-den-Sternenhimmel auch stolpern kann…

Kairos bedeutet aber weit mehr als das Glück eines Augenblicks. Dr. Kairos war nicht nur Dr. med.. Er war auch Dr. phil. und hatte Philologie studiert. Was heute Sprach- und Literaturwissenschaftliches meint, ganz früher mal schlichter „Liebe zum Wort“. Jedenfalls thronte das dicke Wörterbuch für (Alt)-Griechisch – Deutsch (und zurück), der „dicke Güthling“, nicht nur in deutschen Bibliotheken, sondern auch über dem Kopf von Dr. Kairos zwischen all den roten Büchern, die international mit ihrer Buchrückenfarbe versichern, dass der Besitzer mit Medizin zu tun hat.

Im dicken „Güthling“ steht viel mehr, was für ein neues Jahr sehr hilfreich sein kann: Kairos bedeutet „diese Zeit der Entscheidung“. Das erhebt den glücklichen Augenblick zu einer Höhe des Denkens, die gleichermaßen dem eigenen Handeln gewidmet sein kann – wie dem Nachdenken darüber: Was will ich denn im neuen Jahr, der Zeit der Entscheidung, entscheiden?

Martin Luther übersetzte auch. Ein bisschen anders: Kairos war für ihn kein „glücklicher Augenblick“, sondern ein „rechter Augenblick“. Einer, nach dessen Vergehen nicht das Glück aufhört, sondern aufgrund des rechten, richtigen Zeitpunkts anhält. Heute ließe sich von „positiver Nachhaltigkeit“ sprechen – wenn nicht die Virenwelten das Positive so in das Negative gezerrt hätten. Was die Medizin im Großteil ihrer Diagnostik aus guten Gründen schon vorher tat.

Wenn Dr. Kairos hier bei uns praktizieren würde – er wäre überlaufen. Weil dieser Name bereits den Patienten vor der Handanlegung beeinflusst. Positiv. Positiv im vor-coronaesken Verständnis von uns Laien. „Kairos“ zu heißen – das ist ein Placebo-Effekt vor und während der unfallchirurgischen Behandlung.

Mir hilft die Erinnerung an ihn und damit an den alten Güthling und mit diesem an die Wirkkräfte von solchen Wörtern im Blick auf das Neue in den von heute an verbleibenden 361 Tagen und Nächten sehr. Erich Kästner erinnert in seinem „Januar“ (in „die 13 Monate“): „Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege. Und stirbt in einem Jahr. Und das ist bald“.

Das ist durchaus beruhigend - für unser neues Jahr voller Problemlösungsversuche.

Ziehen wir den Hut, den Chapeau, vor dem Neuen im neuen Jahr. Das kann es durchaus beeinflussen.

04. Januar 2022