Folgen eines Liederbuches
Die beiden strahlen um die Wette in die Handy-Kamera in den digitalen Heiligabend und zeigen den weit entfernten Lieben ihre Geschenke: Maschinenpistolen so lang wie der Sechsjährige und die Waffe des Neunjährigen baucht sich seitlich mit Magazinen für Granaten. Aus Plastik.
„Guck mal, Omama, wie ich aussehe!“ Der Jüngere nestelt die riesige Schutzbrille für die Augen um die Ohren wie die restliche Menschheit ihre Masken um Nase und Mund. In das Strahlen um die Wette mischt sich dahinter der LED-belichtete Weihnachtsbaum. An seinem Fuß die Hirtengruppe um das Krippenkind.
Ich verschlucke mich an Wörtern, die ich sagen möchte, aber es nicht tue. Wie können die Eltern nur…Stille Nacht, Heilige Nacht. Gesegnete Weihnacht. Gesundheit an Leib, Seele und Geist im neuen Jahr! Wie können die Eltern nur…
Ich verschlucke mich rechtzeitig, weil mir mein Gewehr einfällt. Es lag auf meinem Gabentisch. Vor über einem halben Jahrhundert. So lang wie mein damaliger Arm. Eines mit Holzschaft und Blechlauf. Dazu zwei der Holzstäbe mit Gummipfropfen, die bis zu zehn Meter fliegen konnten. Beim Hochhalten des Gewehrlaufs sogar in weitem Bogen bis an die Wand hinten im Gemeindebüro.
Später, viel später hörte ich, dass es um mein Gewehr eine längere Diskussion meiner Erziehungsberechtigten gegeben hatte. Bedingung für die Erfüllung meines heißesten Wunsches: „Nie damit direkt auf Menschen zielen!“ Also zielte ich nur gut versteckt auf sie. Ansonsten auf den Erzengel mit Schwert im Bilderrahmen. Und auf ein Relief der Gottesmutter.
Den Ausschlag für die Geschenkerfüllung gab, dass Großvater an das Kinderliederbuch „Sang und Klang fürs Kinderherz“ erinnert wurde, das er mit Widmung („im Gedenken an Tante Trudi in Holdenstedt - den Kindern zu eigen“) zum Christfest 1895 geschenkt erhielt. Und 1927 seinen beiden Söhnen weiterschenkte. Ohne ganz genau alles gesungen zu haben. Zum Beispiel:
„Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben,
Trommel, Pfeifen und Gewehr,
Fahn` und Säbel und noch mehr,
ja, ein ganzes Kriegsheer,
möcht` ich gerne haben.“
Ich sang es mit gleicher Inbrunst wie „Oh du fröhliche“ und „Ihr Kinderlein kommet“. Aber das abgebildete Gewehr fesselte die Phantasie am meisten.
Frieden und Gewalt, Gutes und Böses, Konstruktives und Destruktives – Teil und Gegenteil, sie sind immer schon in uns „dichte bi“, nebeneinander. Hatte Tante Trudi fleißig gemahnt. Die Psychologen haben heute kaum Neues dazu.
Weihnachten ist vorbei. Ein neues Jahr ist im Anmarsch. Gehen wir - möglichst - sanft hinein und durch. „Wie man ruft in` Wald hinein, kommt es raus, laut oder fein.“ Auch in Tante Trudis Liederbuch.
28. Dezember 2021