Von Ansichtspostkarten
Es gibt diejenigen mit einem Motiv auf der ganzen Bildseite: Eine Landschaft, eine Seeschaft, eine Kathedrale, ein Schloss. Oder mit einzelnen Lebewesen: Eine Kuh, ein Vogel, ein Kind in feiner Tracht, eine Bäuerin in üppiger. Gebildete schicken Galerie-Kunstpostkarten und Stars ihr eigenes Porträt.
Gruß aus, von…
Die liebsten Ansichtspostkarten waren immer und sind mir diejenigen, die wir jetzt auch an die Enkel schreiben. Auf deren Ansichtsseite sind vier oder am besten sechs immer kleiner werdende Bildchen. Zweimal wöchentlich schreiben wir sie. Und darauf sind mindestens einmal die Berge des Allgäus, einmal Neuschwanstein (obwohl das gar nicht in der Nähe ist), dann eine Kuhherde mit Kälbchen vorneweg (40 davon haben wir neben uns im Stall), ein typisch bayerisches Männergesicht mit nach oben spitzer verlaufendem Jägerhütchen und Gamsbart. Gamsbart am Hütchen. Typisch für Jäger.
Was ist das nun – ein typisch bayerischer Mann? Überhaupt „ein Typ“? Wir kennen den tollen Typ, den coolen Typ, den unmöglichen, den brutalen Typ. „Typ“ allein ist nur ein vages Beschreibungswort, das nicht einmal in die Gendersprache aufgenommen wurde. „Tolle Typin“ gibt’s noch nicht.
Typ stammt von „typos“ (griechisch) und meint zunächst „Vorbild“. Aber nicht einfach eins, das dazu da ist, bewundert, idealisiert, gar nachgeahmt zu werden. Ein Typ ist, an dem sich andere orientieren, sich prägen lassen wollen und schon nie mit „Klischee“ verwechselt werden darf wie schneebedeckte Alpen.
Unser Gastgeber vom Hemer-Hof im Allgäu ist Leo Hemer, Landwirt, Jäger und Alt-Alpmeister (der, der die Rinder für den Almauftrieb aussucht). Herr Hemer sollte eigentlich vorne auf unsere Ansichtskarten. Herr Hemer ist auch ein „Typ“. Auch er ließ sich prägen von Vor-Bildern, seiner Landschaft und Menschen und dem, was sie tragen. Tracht. Er trägt sie immer. Und besonders einen Rundum-Bart mit dem besagten Hütchen samt Gamshaarsträußchen. Konversation treibt er nicht, aber klare Worte. Zu Corona, Rinderzucht und Herrn Söder.
Was die Ansichtspostkarten (hier im Allgäu) nicht haben, sind kleine Tonträger, auf denen man Herrn Hemers „typische“ Sprache hören kann. Allein die zu hören mit geschlossenen Augen an einem unserer Nordsee-Inselstrände würde einen schnurstracks ins Allgäu versetzen.
Ansichtspostkarten mit vier, besser sechs Ansichten vorne drauf entsprechen auch dem besseren Bildungsideal.
Der Schweizer Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri lehrt, dass gute Bildung in der heutzutage nicht mehr überschaubaren Wissenswelt diejenige ist, von vielem ein bisschen zu wissen. Statt von einem alles. Ich füge hinzu: Schon gut, sich auch zu spezialisieren. Identitätsprägung durch nur eine Sache ist zu wenig.
Zum Schluss: Unsere Bauern zuhause in der Heide in Allenbostel oder Gr. Liedern oder sonst wo sind auch tolle Typen Nur eben ohne Trachten.
23. November 2021
Typisch bayerisch mit Jägerhut und Gamsbart: Landwirt Leo Hemer (Foto: Decker-Voigt).