Schichtenlook
Außerhalb vom Dorf, also richtig auswärts - Hamburg und so - findet Christine mich passabel bis chic. Gekleidet, meine ich. Für das dunkle Halbjahr mit mehr Häuslichkeit findet sie mich einfallslos. Auf die Kleidung bezogen, meine ich.
Deshalb blättert sie für mich in einem Katalog.
„Schichtenlook“, liest sie, „lies mal das Kleingedruckte.“
Ich schüttele den Kopf, weshalb sie weiter vorliest. „Schichtenlook – das ist unsere Herbstkollektion für wärmende Pullis und Sweatshirts, die besonders leicht gearbeitet sind und frei am Körper fallen. Empfehlenswert, weil Sie unter der Schicht von Pulli oder Sweatshirt nochmals eine Schicht tragen. Unser Schichtenlook sieht gut aus und wärmt noch besser!“
Ich denke Verschiedenes zu diesem Werbetext und spreche es aus. „Schichten“ - das ist klar. „Look“ - der Blick, der Anblick auch. Aber bisher habe ich unter „Schicht“ mehr Bergwerke assoziiert. Oder den soziologischen Begriff von Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht. Letztere sind schwindende Begrifflichkeiten, weil wir längst alle gleich sind. Bis auf die, die eben gleicher sein wollen als gleich.
Ich stoße mich auch am Schichtenlook, weil der am Körper frei fällt – und ich ja angezogen bleiben will. Notfalls eben einfallslos.
„Schichtenlook“ passt für mich nur auf eine einzige Persönlichkeit. Der Holdenstedter Zeitungsfrau Luise. Sie trug die AZ im vergangenen Jahrhundert aus und es gab sogar einen dicken, ebenfalls vergangenen Roman, in dem sie ausführlich vorkam („Geschichten aus Kl. Süstedt“, der Schriftsteller verhüllte darin Holdenstedt).
Sie trug die AZ ein Leben lang in Holdenstedt aus und ich durfte sie auch kennenlernen. Als Abonnent. Vieles machte sie zum Original. Ihr grundsätzliches Duzen aller, ihre reichlichen Zisch- und Zwischenlaute (no, do, so), mit der sie ihre Wörter umrahmte.
Hauptsächlich aber machte mir die Geschichte von Luises Schichtenlook Eindruck. Luise trug eine Überjacke und darunter einen Überrock. Darunter sommers wie winters ein ganzes Sortiment von Unterjacken, Unterröcken, dann Unterhemdchen und sogar einen Petticoat Marke Ende der 50er Jahre. Genau gezählt hat das niemand.
Wieso das bekannt war? Weil Luise eine feste Route hatte und auf dieser Route schob sie ihr Damen-Rad mit Netz über dem hinteren Rad mit den gebündelten Packen von 75 Exemplaren der AZ (am Wochenende 50 mehr wegen der Reklame). Zwischen dem Hof Timm und der Bäckerei von Ernst gab es eine nicht einsehbare Stelle, wo Luise eine natürliche Pause machte. Und da – nur von ferne – hat man sie einmal beobachtet, wie sie die Röcke…
Schichtenlook – das passt für mich nur zu einer. Zu Luise. Als sie starb und man Papiere sichtete, da stellte man ihren ersten Vornamen fest. Viktoria. Ihre Eltern verehrten die Kaiserin.
26. Oktober 2021