„Heute ist die gute alte Zeit…

…von morgen.“ Es hat viele Gründe, warum Karl Valentins Sprüche Lebensweisheiten wurden und von Kurt Tucholsky über Bertolt Brecht bis zu den Zitatensammlern im Internet bewundert wurden und werden.

„Sie ist furchtbar, diese Zeit jetzt – und das seit anderthalb Jahren“, sagt Uschi. Ohnehin Typ „Das Glas ist halb leer“.

„Aber bei Katastrophen wie im Ahrtal und woanders haben die Wellen der Hilfsbereitschaft Tsunami-Dimensionen angenommen. Positiv. Lange nicht erlebt“, widerspricht Ernstl. Auch sonst Typ „Das Glas ist noch halb voll.“

Die Wellen der Pandemie ebben gerade mal ab, aber die Folgen der Pandemie produzieren neue Wellen. Trauerarbeit über Pandemie-Opfer, Sorge um schulische Leistungsrückstände, noch größere um die Folgen lückenhafter sozialer Folgen bei Kindern mit und ohne Kita, Kiga, Klassengemeinschaft.

„..heute ist die gute alte Zeit…“?

Wartelisten bei den Kinder-und Jugend-, Familien- und Paartherapeuten und den Supervisoren für eben diese…Wartelisten in den Psychosomatik-Kliniken und den Anlaufstellen für ambulante Psychiatrie…Personelle Unterversorgung in den helfenden Berufen…

Wie werden wir die gute alte Zeit? Wie wird eine Fukushima-Zeit, eine 9/11-Zeit eine gute alte Zeit?

Tante Erna ist 96 und hat 1946 nach der Ankunft aus Siebenbürgen in Braunschweig mit aufgeräumt. Als Trümmerfrau.

„Die Männer waren tot oder vermisst. Die Lebendigen in den Straßen waren die mit ohne Beine und mit ohne Arme. Die heileren Männer saßen in Internierungslagern der Besatzung. Und denen man nichts ansah, die hatten es reingefressen, spuckten später. Wir hatten übrigens auch Viren. Jede Menge. Polio, TBC. Gesundheitsämter und Impfstoffe waren wie Lottospielgewinne. Nein, keine gute alte Zeit.“

Dann legte Erna los. Ob wir eigentlich wüssten, was damals „Staat“ war? Keiner jedenfalls, der Privathäuser, Flugzeuge, Firmen, Kneipen, Künstler – jedenfalls etwas mit zu retten versuchte.

Ernstl nickte heftig.

„Ihr sollt weiter demonstrieren“. Tante Erna zeterte ein bisschen. „Für und gegen was ihr wollt. Ihr habt die Zeit dazu und nutzt sie. Aber manchmal denke ich, ihr habt zu viel Zeit. Zum Gegensein und Fürsein. Und für`s Wundenlecken. Und – hilfsbereit waren wir auch. Nur nicht öffentlich.“

Klar, dass Uschi hochrot wurde und dass Ernstls Nickparade nicht aufhörte. Er war es denn auch, der an Karl Valentin erinnerte.

„Heute wird keine gute alte Zeit…“ Dann tranken wir – wieder mal – auf den alten Sigmund Freud: „Vorgeschichte ist eher ein Ausdruck der Meinungen und Wünsche der Gegenwart als einAbbild der Vergangenheit“.

21. September 2021