Finjas Blick
Sie verunsichert mich zunächst und ich beneide sie. Eben um das, womit sie mich verunsichert. Ihren Blick.
Für das Blicken gibt es Anstandsregeln. Leidlich erzogene Menschen, also wir, sollen Menschen nicht von oben herab (Hochmut), nicht von der Seite anschauen (Unaufrichtigkeit) und schon gar nicht heimlich (Hinterhalt) oder im Schlaf. Sondern ehrlich direkt ins Auge. Nicht Auge um Auge.
Andererseits dürfen wir dies Auge-in-Auge nicht zu lange machen. Das gleitet in Glotzen ab, Starren, Übergriffiges, Drohendes, Strafendes. Je nachdem.
Finja schaut mich an, mich, ihren Großvater. Sie sitzt unbeweglich in ihrem Kindersitz – und schaut, guckt, betrachtet. Das Verunsichernde: Sie tut es Minuten lang. Nur ihre Augenlider klappen hier und da mal runter und machen den Blick zum Augenblick. Das gleiche kann sie im Stehen, ein Meter von meinen Knien entfernt und einen Meter unter meinem Kopf. Unbeweglich in die Augen schauen. Das macht sie auch bei ihrer Omama Tine. Bei wieder anderen, die sie gleich anfassen, streicheln oder auch nur anreden wollen, dreht sie sich ab.
Finja ist zwei Jahre alt. Sie darf wie alle Kinder in diesem Alter noch das, was uns während des Älterwerdens nach und verwehrt wird: das ruhig forschende Betrachten des Gegenübers.
Die Finjas dieser Welt sammeln mit ihrem Langzeitblick beim Gegenüber all das, was sie dann entscheiden lässt. Entweder Zu- oder Abwendung. Die Hirnphysiologie spricht von bottom up und top down. Die Sensoren der Finjas dieser Welt senden an ihr Hirn ein Mischmasch von vertrauten oder fremden Signalen vom Gegenüber, die sie die Entscheidung dann zeigen lässt. Zu-Stimmung oder mögliche Ver-stimmung. Letztere meidet der Mensch.
Ich würde eben das so gerne bei bestimmten Menschen tun: Ruhig und ungestört den anderen betrachten. Wie Finja. Menschen, die für mich besonders interessant, spannend sind, manchmal anspannend und verspannend, würde ich zu gern wie Finja durch ungestörte Betrachtung erforschen. Menschen, die Sympathie auslösen. Oder das extreme Gegenteil: Abscheu.
Wenn wir aus dieser Kindheit weiter herauswachsen, erwachsen werden, lernen wir das Wort für das, was wir jetzt sind: Erwachsen: „Adult“ heißt es. To be adult = erwachsen sein.
Soweit das Unspannende. Im alten zweibändigen Langenscheid von 1929 steht Spannenderes: Adulteration heißt Verfälschung, adulterate verfälschen.
Wir Verfälschten, die wir nicht mehr direkt zeigen, was wir fühlen und denken und wie wir eigentlich handeln möchten, bezahlen meist, wenn wir andere Erwachsene ungestört betrachten wollen: Auf Kleinst-und Großbühnen, in Hörsälen. Nur die, die auf Kanzeln stehen, können kostenlos langbeobachtet werden.
31. August 2021