Herdentrieb

Über „Herdentrieb“ wollte ich schreiben. Bei der Vorarbeit habe ich in meine diversen Lexika und Handbücher geschaut. Alle weisen unter dem Stichwort „Herde“ das aus, was ich dachte. Als moderner Mensch ziehe ich zusätzlich das Internet zu Rate. Und das fängt ganz anders an: Herde für die Küche. Dann kommt Herdenimmunität. Herdentrieb noch später.

Mein Anlass zum Thema Herdentrieb: Unsere Tonnen mit blauem Deckel. Die für Papier. Wir sehen sie bei einer kurzen Radfahrt in einer der drei Straßen. Sechs Blaudeckeltonnen. Rappelvoll. In unserer Straße wartete keine. Ich brülle im Fahrtwind, dass wir rausstellen müssen, Christine ruft zurück, dass wir nur den Normalvertrag hätten. Unser Termin sei erst in zwei Wochen. Sie schließt Irrtum aus.

Nun siegt in dieser menschlichen Welt meistens der Zweifel über irgendwelche Sicherheiten. Auf der Rückfahrt ist Christine unsicher und lässt mich unsere Blautonne an die Straße zerren. Dort wundere ich mich nur, dass unsere Tonne immer noch Single ist.

Spät am Abend überprüfe ich unsere einsame Tonne an der Straße – und ich hatte Recht. Die Nachbarn haben nachgezogen. Sicher dankbar für den Erinnerungsappell durch unsere Tonne.

Die Geschichte ging nicht gut aus. Die Tonnen der anderen Straße waren am nächsten Tag geleert, die Tonnen unserer Straße voll. Christine frohlockte still.

Zurück zum Herdentrieb, denn der ist es, der unserer Tonne alle anderen folgen ließ. Bzw. die Nachbarn mir.

Mein Brockhaus sowie zwei Psychologie-Lexika definieren alle ähnlich. Herde ist der zoologische Begriff für die Ansammlung großer gleichartiger Säugetiere. Laufvögel eingeschlossen. Betonung auf „groß“.

Wann und warum nur nutzt die Menschheit einen zoologischen Begriff, um sich selbst zu beschreiben und der Tierwelt zuzurechnen? Das „wann?“ erklärt sich etwas: Das Neue Testament ist voll mit der Beschreibung von uns als Herde. Die Zoologie differenziert immerhin mehr mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass bei „Herde“ nicht unterschieden werde zwischen Wildtieren und Haustieren.

Immerhin also – zu Wildtieren kann man uns nicht zählen. Nur zu den Haustieren. Allerdings wohl den Kleinsten unter den Herdentieren. Denn diese sind – s.o. – normalerweise g r o ß. Und nicht ideale Mittelgröße, wie ich sie habe. Hatte. Seit Jahren sind die anderen männlichen Tiere meiner Herde mindestens 1, 80 m hoch und reichen mir ihre Pfoten oder Klauen von oben herab (vor der Pandemie).

In unserer Straße durfte ich trotz der Unterlegenheit in Sachen Körperlänge die Erfahrung machen, ein Leittier zu sein. Zwar nur kurzfristig und an die Tonne mit dem blauen Deckel gebunden. Aber immerhin. Bis jetzt bin ich noch nicht bestraft worden wegen der Irreführung.

20. Juli 2021