Neue Beziehung

„Nee, die hat jetzt `ne neue  Beziehung“, sagt die Dame zwei Stehplätze vor mir in der Schlange am Fischwagen vor Edeka.

Die zweite Dame kennt die erste offenbar besser oder beide sind schon geimpft. Jedenfalls vermindern sie den gesetzlichen Abstand zueinander, so dass sie flüstern können. Und Geflüstertes – das wissen wir ja – spitzt die Ohren Dritter, die das Geflüsterte nicht hören sollen, mehr als alle Schalltrichter. Abstand hin oder her.

Es geht um eine dritte Dame, die offenhörbar einen neuen Mann über Annoncenangebote kennen und schätzen lernte. Und wohl auch mehr. Denn ich höre Wörter wie: „Wie ein Backfisch ist sie...“

Auch höre ich „…und das über 70.“ Mit dem Klang der Entrüstung. Obwohl doch dabei aufgerüstet wird zum beliebtesten Klatschthema: „Neue Beziehung“.

Die Unbekannte, die sich wieder wie ein Backfisch benehmen soll, beschäftigt mich nicht weiter. Aber die Mehrfachbedeutung von „Beziehung“. Hörte ich nicht auch gerade einen Politiker sagen, er habe eine „tolle Beziehung“. Wobei er gleich viele Menschen meinte. Seine Wähler.

Nun gibt es auch und gerade in der Sprache nichts Konstanteres als den Wandel. „Beziehung“ lernte ich im Nebenfach Soziologie - zugegeben fast ein halbes Jahrhundert früher -  als etwas Anderes. Aber das Meiste gilt in heutigen Handbüchern immer noch. Zusammengefasst dies:

„Beziehung kennzeichnet den Grad der Verbundenheit oder Distanz zwischen Individuen als Ergebnis sozialer Prozesse.“

Das Gespräch am Fischwagen nutzt „Beziehung“  - so wie auch ganze Teile der Bevölkerung - nur in Richtung Verbundenheit. Nähe sogar. Intime Nähe. Altmodisch formuliert: etwas im Blick auf Liebe.

Wieder anders die Bedeutung von „Beziehung“ in der Mehrzahl. „Der hat eben Beziehungen…“ ,mit jenen Beitönen von Neid und Vorwurf.

Zu dieser Mehrzahl auch was aus der Wissenskiste. Was Stocknüchternes: „Die Mehrzahl von sozialen Beziehungen werden in ihrer gegenseitigen Verbundenheit als Einheit aufgefasst und verkörpern ein soziales Gebilde.“ So kann man das auch nennen.

Zurück zur 70jährigen mit neuer Beziehung beim Fischwagen. Sie muss jung geblieben sein. Sonst könnte sie nicht Backfisch-Verhalten zeigen.

Ich reflektierte weiter. Meine Beziehungen. Zu meinen Nachbarn, zu Studenten, zu Kollegen, zu Verwandten und Zwangsverwandten, zu Mitarbeiterinnen, zu Handwerkern.  

„Was möchten Sie bitte?“ Die Frage der Fischverkäuferin überfällt mich in meinen vielen Beziehungen.

„Backfisch“ muss ich gesagt haben. Das Gelächter weckt mich. Schön, dass dieser Fisch lebenslang im Menschen schwimmen kann. Unabhängig vom Geschlecht. 

15. Juni 2021