Achtung! Bissiges Wort!
Der Kolumnentitel ist der eines Kinderbuches, das von gar nicht genug Erwachsenen gelesen werden kann. Aufgrund der Veränderungen, die wir Erwachsenen aktuell zeigen:
Im Impfzentrum werden Mitarbeiter und Ärzte beschimpft, beleidigt. Impfende Hausärzte desgleichen. Personen des öffentlichen Lebens können einander Hassbotschaften und Beleidigungen vorlesen, ob sie nun für oder gegen Impfungen sind. Dasselbe können Wissenschaftler, Kommunalpolitiker, Lehrer, Journalisten Kolumnisten…egal, was sie, was wir tun: Es zeigen sich immer schneller und immer mehr Sofort-Feindschaften, immer langsamer und weniger Streitkultur.
Über die „Verrohung“ unserer Gesellschaft wurde immer schon geschrieben. Über die Scham auch, die fühlbar wird angesichts des „Rohen“ und seiner nächsten Stufe, dem Tabubruch. Manches aus dem Mund oberhalb der Gürtellinie ist beschämender als unterhalb.
Die Generation meiner Eltern schämte sich wegen ihrer aktiven Täterschaft oder stiller Mitläuferschaft in der Verrohung des Nationalsozialismus, die sich auch als erstes in Wort und Schrift dann in Taten zeigte.1968 schämten wir uns in den deutschen Studentenschaften dieser unserer Eltern und demonstrierten für Frieden, während gleichzeitig unsere äußerst radikalisierten Linken (und daraus geborenen Terrorgrüppchen Bs. RAF) wie unsere Rechten die übrige Gesellschaft mit Gewalt umzuformen begannen.
Heute haben wir die Pandemie (pan = griech. = alles), die uns alle spaltet. In besondere Hilfs- und Opferbereitschaft einerseits. Andererseits in Protestgruppen, die inzwischen nicht nur mit bissigen Wörtern protestieren, sondern auch tätlich werden, körperlich angreifen.
Immer, wenn Verrohung dadurch verarbeitet wird, dass man über sie nachdenkt, redet und schreibt, werden Ursachen gesucht und reichlich gefunden: Das Internet und dessen Verführung zur Anonymität ist schuld. Die Anonymität ist schuld, weil sie die destruktiven Kräfte im Menschen freisetzt. Die Destruktivität ist schuld, weil sie Hemmschwellen hinwegfegt.
Andere sagen, die Folgen der Pandemie seien schuld. Entmündigung des Bürgers. Die Enge, mit der Menschen aufeinander hocken, nur noch mit Sardinenbüchse oder Flughafen-Zubringerbus zu vergleichen. Enge macht Angst und Angst lässt beissen.
Wieder andere finden die Anfänge unserer Verrohung in der Vergangenheit: Die soziale Erziehung versagte. Es begann unsere Duz-Gesellschaft von heute, „Du bist ein Idiot, ein Versager!“ sagt sich leichter als „Sie sind ein Idiot, Versager.“
Viele sagen, der Supermarkt ist schuld. Wir sind Auswahl gewöhnt, große Auswahl, Riesenauswahl. Nur, dass sich diese wählerische Grundhaltung nicht bei den Impfstoffen ausleben lässt.
Nun leben wir uns eben in der Wortwahl aus, wählen bissige Wörter, verrohende, rohe Wörter. Nur - roh werden auf Dauer beide. Der Verrohende, der mit Wörtern beißt. Und der, der gebissen wird. Zurückbeißen als Lösung?
Unsere Zeit braucht beredten Widerstand, Widerstandskämpfer – wo immer wir bissige Wörter hören. Wie damals…
Das Kinderbuch wurde geschrieben von Edith Schreiber-Wicke und illustriert von Carola Holland.
27. April 2021