Aufschieberitis

 „Jetzt in der Pandemeritis hat sie mich auch erwischt – die Aufschieberitis“,  stöhnt Jürgen, Alexanders Freund.

Alexander und ich denken sofort an mahnende Väter oder Großmütter, die einem in die Ohren trompeten: „Lass es nicht liegen!“, „Mach`s sofort!“ „Schieb`s nicht wieder auf die lange Bank – sonst wird die Bank Rutschbahn!“

Jürgen beklagte sich über sich ausführlicher: „Ich arbeite in der Ambulanz mit immer mehr Homeoffice-Patienten. Menschen, die beim Versuch, Beruf und Familie unter einem Zimmerdach zu vereinen, nicht genügend das eine vom anderen trennen und beides nicht von möglichem dritten. Das Berufliche beißt das Homeschooling der Kinder, manche haben noch pflegedürftige Elternteile im Haus!“

Jürgen arbeitet bis zu 13 Stunden in der Klinik und nimmt dann Arbeit mit nachhause. Restliche Auswertungen von Studienergebnissen, Rohentwürfe für den termingebundenen Aufsatz, der nächste Vortrag, so unvermeidlich wie wichtig!

Und jetzt hat sie ihn, die Aufschieberitis. Und er sie. Sagt er.: „Ich werde nicht fertig und nehme mir den Rest für frühmorgen in der Klinik vor  – und am Abend des nächsten Morgen sind es zwei Resthaufen und inzwischen – ach, ach!“

Alexander und ich widersprechen heftig: Jürgens „Aufschieberitis“ ist keine! Gar keine! Denn er käme ja ohne Arbeitsreste überhaupt nicht mehr ins Bett.

Die echte „Aufschieberitis“ ist deshalb so gut bzw. schlecht bekannt, weil wir so erzogen wurden: Mach es gleich! Lass nichts lange liegen! Und wir kennen es, weil heute wir andere damit zu erziehen versuchen.

Für die echte Aufschieberitis gibt es wie für alles ein Fremdwort.„Prokrastination“ heißt es und trifft das Elend im Kern: Die Vorsilbe „pro“ bedeutet „vor“ und das „kras“ (lat. = cras) das Morgige. Eben das Elend, was vermieden werden soll durch alle solche Mahnungen: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen…“

Adressiert wird der Bequemlichkeitstrieb in uns, der Faulpelz. Mit der Verführung, etwas zu unterbrechen, abzubrechen, aufzuschieben, geht’s los und führt im Extremfall wirklich in ernste Krankheit.

Jürgen sieht ein, dass seine Prokrastination keine ist. Denn er käme ja ohne den Mut zu Arbeitsresten unter 5 Stunden Schlaf .

Alles hat auch seine Gegenteile. Auch die Aufschieberitis, die Pro- kras –tination. Ihr Gegenteil zeigt sich nur durch einen Buchstaben: PrÄ - krastination. Auch wieder Latein: Prä = vor. Hier im Sinne von vor-beugen, Vorbeugen der Aufschieberitis nämlich.

 Ihr ist der Typ erlegen, der erst ins Bett zu gehen wagt, wenn nicht nur sein äußerer Schreibtisch leergefegt ist, sondern der innere auch, der meist überfüllter ist als der außen.

Solche Typen kommen überhaupt nicht mehr ins Bett.

23. März 2021