Haarige Chronologie (männlich)
Um 1900: Die sich zurückziehenden Haupthaare des zivilisierten zivilen Mannes (kein Militär) werden kompensiert durch die Bartlänge. Einerseits. Andererseits durch die Umbenennung der sich vergrößernden vorderen haarlosen Buchten in „Geheimratsecken“. Die „hohe Stirn“ („Glatzenbeginn“) gilt als Ausweis von Denkvermögen.
In den Nachkriegszeiten ersetzen Blumentöpfe die zerstörten Frisiersalons. Topf auf den Kopf und was unter dessen Rand noch zu sehen ist, wird abgeschnitten, gesammelt und man kriegt Bares dafür (Naturhaar-Perücken für das Ausland).
Anfang 1960er: Unsere Väter und Großväter verdienen im Wirtschaftswunderland derart viel, dass sie horrendes Geld ausgeben für Haarwasser, um mindestens Haarschwund aufzuhalten oder gar auf dem Schädelacker Haarwurzeln neu zu pflanzen.
Ende 1960: Wir Jungen protestieren gegen Altes („Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“). Damit war sowohl äußeres Establishment gemeint als auch dessen politischer Schädelinhalt. Äußeren Ausdruck gaben wir der Neuen Welt in Europa mit unserer Haarlänge (schulterlang bzw. bis Zopf bis zum Steiß).
Zeitgleich rennen unsere vermögenderen Alten mit Naturhaar-Perücken herum und glauben an den Appellwert wieder dichten schwarzen, braunen, blonden Haupthaars im Geschäfts- und Liebesleben.
Ende 70er: Die noch teureren Angebote in Sachen Verpflanzung von ganzen oder fragmentierten Haupthaarflächen auf männlichen Kahlschädeln löst die Naturhaar-Perücken ab.
Ab Mitte 90 er: Erste Mutige unterhalb von 50 Lebensjahren verzichten auf ihr gesundes, lückenloses Haar – und schwören auf den Yul Brunner-Frisureffekt: D.h. eine Schädelfrisur ohne Frisur. Wie ein frisch gesalbter Babypopo. Nur härter.
Seit 2000: Mischformen: Ganz kurzgeschnittenes Kürzesthaar steigert den Umsatz von wärmenden Wollmützen rasant.
2020: Der erste Lockdown katapultiert die Innung der Friseurinnen und Friseure in eine der ranghöchsten Stufen nach den Virologen, weil alle sie brauchen, um der Verwahrlosung zu entgehen. Termine beim Zahnarzt oder Schönheitschirurgen sind leichter zu kriegen. Im Frisiersalon: „Bitte warten, dann anmelden, dann warten“.
2021: Während des 2. Lockdowns: Die Korruptionsversuche, den eigenen Friseur zu sich nach Hause zwecks schnellstmöglicher Haarbeseitigung zu holen oder die Hintereingänge seines Salons zu nutzen, übertreffen die Mafia. Die Friseure bleiben hart.
Ängsten vor dem 3. und 4. Lockdown begegnen Heidebewohner wie ich souverän: Nicht nur Hahn und Schulz in unserem Dorf haben Schnucken und Schafe und können scheren.
16. Februar 2021