Lernprozess an Gabentischen

Wo Kinder sind - da verschwinden Geschenke auf den Gabentischen meist am 1. Weihnachtstag. Weil sie mit den Gaben spielen wollen. Wir besuchten die Enkel und deren Geschenke, die wir bezahlten und die die Kindereltern ausgesucht haben. 

 „Willst du mal mein Schleichteil sehen, was ich bekommen habe?“ Natürlich beeile ich mich, lebhafte Neugier zu äußern. Das Schleichteil ist ein farbiges Kunststoffgefäß, hinter dessen zweiflügeliger Tür sich das Paradies auftut für Engel und Großtiere (Pferde) und Kleintiere (Füchse) zeigt. „Das sind keine Engel. Das sind Feen“, korrigiert mich die beschenkte Enkelin sachlich. „Und die Pferde sind Einhörner“.

Ich frage nach der Bedeutung von „Schleich“, frage und erwarte moderne Märchen, Mythen, die die Schleichwelt erklären. „Das ist die Firma, die das macht“ wurde ich belehrt. Ah ja, es wird auf Firmenqualität geachtet, nicht Märchen.

Ich trauere den Heiligen Abenden nach, in denen Väter und Mütter ihren Kindern und Großeltern ihren Enkeln die Geschenke erläuterten. Und nicht umgekehrt.

Die Zweijährige hat ein Tastenklavier bekommen. 2m lang. Es liegt auf dem Parkettboden. Die Tasten sind so groß wie halbe Bügelbretter. Wenn die Lütte darüber tappt, werden elektronische Töne in die Welt gesetzt. Hüpfen: eine Art Staccato-Wirkung. Schleichen geht in Richtung Legato. „Das macht Spaß und trainiert Gehör und Motorik gleichzeitig - und über Bluetooth–Kopfhörer kann sie hören, was sie tritt – und wir haben Ruhe“, erläutert ihre Mutter,  meine Tochter. Unterton: beruhigend.

Alexander von nebenan geht es ähnlich wie mit den Geschenken, die er seinem Enkel (12 Jahre) schenken sollte und auch tat - ohne den Umgang genau zu kennen. „Tischtennis-Spiel,“ sagt Alexander, „und ich freute mich darauf, mit ihm zu spielen“. Dies Tischtennis jedoch, murrt Alexander,“ ist keins. Das wird über diese Dinger ferngespielt, mit denen man auch elektronische Kriege und Formel 1-Rennen spielt. Die Bälle werden mit den Fingern übers Netz geschlagen.“ Ich denke an die Gabentische, an denen die Eltern ihren Kindern und Großeltern den Enkeln noch manche Geschenke erläuterten. Und nicht - wie heute - umgekehrt.

Gegen all dies Fremde, was den Schenkenden erklärt werden muss, gab es auch Vertrautes: Die Geburtsorte der älteren Eltern in noch älteren Postkarten (s/w). Derart viel älter als man selbst, dass ein preiswerter „Juvenierungseffekt“ (Verjüngungswirkung) garantiert ist. Denn solch Postkarten sind ebenso wie Foto-Alben und Filme aus früheren (sog. glücklichen) Zeiten die Seele und das Verhalten vitalisierend. Die Wissenschaft der Gerontologie bewies es wieder mal kürzlich.  Außerdem sind sie viel billiger als die Anti-Age-Salbe, die ich mir heimlich schenkte. Nur sieht kein Menschen, wegen der Maskenpflicht, die straffenden Folgen.

05. Januar 2021