Neues Familienmitglied
Wir haben Besuch. Eigentlich dienstlich. Hörfunk. Aber der Redakteur beginnt überraschend persönlich. Geradezu familiär.
„Wir haben ein neues Familienmitglied“ sagt er. Ich bin deshalb überrascht, weil wir kürzlich ihn und seine Frau samt zwei Kindern sahen und ich nichts bemerkt hatte. Obwohl ich in Sachen Schwangerschaft sonst ein scharfes Auge habe. Schon beruflich. Seine Frau muss erlaubt haben, die freudige Nachricht schon sehr früh bekanntgegeben zu wissen. Hinsichtlich Abstand ist der Familienzuwachs auch problemlos, denke ich. Ich meine nicht DEN Abstand. Ich meine den zwischen den bereits geborenen Kindern. Schulpflichtig. Zu klein sollte der Abstand nicht sein. Zu groß auch nicht. Doch, doch, eigentlich ganz gute Zeit für Nr.3, denke ich.
Ich sammele eilig die nötigsten Wörter und beginne mit meiner Mitfreude, aber er winkt ab, schüttelt den Kopf.
„Nein, nicht so. Aber unsere Tochter hat ein Smartphone. Und mit dem leben wir jetzt. Täglich. Stündlich. Ganztagsüber“.
Er und Lauras Mutter hatten eigentlich noch lange kein Smartphone angedacht. Aber jetzt mussten sie. Wegen der Schulaufgaben, die Tochter Laura von der Schule erhält - digital. An Tagen, an denen sie klassenschichtweise nicht in die Schule darf.
„Ohne Handy wäre Laura out,“ sagt der Vater, „völlig out. Die Kids haben einen Chatroom, in dem sie untereinander und mit der Lehrerin die Schulaufgaben kommunizieren. Die Lehrerin unterrichtet mit Powerpoint, stellt Comics, Animationslehrfilmchen rein, Nachfolge von Sesamstraße. Das soll die Aufgaben leichter machen.“
Ich blicke wohl skeptisch, denn der Vater beteuert.
„Was sollten wir machen? Jetzt klebt sie am Handy und umgekehrt auch - das Ding klebt an ihr. Wie ein Handschuh.“
Nein, erzwungen haben die Schule und die LehrerInnen das Handy nicht. „Aber sie wäre ohne Handy leistungsmäßig und wegen des Kontaktes zu den anderen eben draußen. Und dann der Vergleich. `Was? Du hast kein Handy?`“
Ich denke an die Tafel, an der Christine vor Jahrzehnten vertretungsweise als Junglehrerin in Hösseringen mit Kreide und Schwamm schrieb und die ich vor Jahren in die Hochschule in Hamburg entführte. Dort, heute, ganz aktuell in Corona-Zeiten, wo wir uns seit März nicht sahen und alles Online machten – jetzt treffen wir uns wieder in erlaubten Kleingruppen. . Und woran, worauf schreiben in diesen ersten Treffen? Studierende wie Profs vorzugsweise? An eben Christines alter Schultafel.
Alles Extreme sucht sein Gegenteil: Der Ausgleich zur digitalen Welt kommt ganz von selbst. Laura muss nur älter werden. Einige Exklusive mit Geld für jeweils letzte Schreie schreiben schon wieder mit Tintenfässchen und Gänsekielfeder.
06. Oktober 2020