Ach, Großmutter…

„Bitte,“ sagt Christine, wenn es ihr zu viel, zu lange wird, “bitte kannst Du mal eine Pause machen.“

Ich höre dann auch auf, kurz jedenfalls. Mit diesem halblauten Pfeifen oder Summen, das nur Fragmente von Melodien transportiert, mühsam erkennbare Intervalle ausweist und meistens eine sinnlose musikalische (Hohl-) Formel ohne Form ist.

Keine Bitte, sondern ein freundliches „Papa, es nervt“ klingt es bei den Töchtern und ich warte schon auf die Beschwerden der Enkel, wenn sie älter werden.

Ich kann nicht anders. Wie Martin Luther vor dem Kaiser im Reichstag. Ich kann nicht anders – nur ohne Kaiser und Reichstag.

Für meine unmusikalische vokale Dauerschleife ist meine Großmutter verantwortlich (mütterlicherseits), die mich tagsüber stundenlang betreute, wenn meine Mutter stundenlang Konfirmanden oder Schulschüler in Religion unterrichtete. Großmutter war  eine Summerin und Pfeiferin. Sie saß hinter der Nähmaschine oder stopfte, kochte, räumte mit den Mädchen den Tisch ab, zog sich um, trocknete ihr Haar – und  wusste eben nicht, dass und was sie summte oder halblaut pfiff. Mit ständigen Übergängen zwischen beidem.

Ich ja auch nicht. Nie. Immer erst Christine oder in Hamburg Frau Sieg im Sekretariat oder die Menschen vor mir oder hinter mir beim Checkin im Flughafen sprechen mich an. Oder legen den Finger oben an die Stirn. Oder auf den Mund (als nicht nur die Gedanken, sondern auch der Mund noch frei waren).

Manche analytisch begabten Menschen haben schon meine Großmutter und mich zu erklären versucht: Jenes Summen zeige Wohlbefinden, dieses Pfeifen trüge die Funktion des Pfeifens im dunklen Walde, also Angstkanalisierung. Mischformen seien Ausdruck unterdrückten Zorns.

Großmutter – sie starb Ende der 60er – würde in unseren Corona-Zeiten während und  nicht durch Corona vorzeitig sterben. Wegen des Gebots, möglichst wenig zu tönen. Aerosole und so.

Heute muss ich wohl eine längere Zeitstrecke bei Edeka gesummt haben. Jedenfalls lächelten einige Augen oberhalb der Maske mich an und zwei Menschen vor der durchlöcherten Schlange an der Kasse legten die Finger auf die Stelle ihrer Maske, wo sich geschätzt ihre Mundöffnung befand. Christine eilte von der Nudelecke mir entgegen und flüsterte „Du nervst“. Freundlich. Dennoch war ich ihr peinlich.
Ich mir auch, aber ich weiß doch nie, wenn ich töne.

PS: Nächstens schreibe ich mal über das Tönen mit der Stimme aus wissenschaftlicher Sicht. Tönende Stimmen gehören mit zu den gesundheitsförderlichsten Aktivitäten des Nucleus accumbens. Jawohll!

28. Juli 2020