Arme Künstler?
„…wir müssen den armen Künstlern helfen“, sagte Tante Ulrike und erwähnte, wieviel mehr sie bei einem Kirchenkonzert in die Kollekte getan habe.
Alle predigen derzeit, wie nötig die Hilfen für Künstler in Corona-Zeiten sind. Solche Predigten kriegen manchmal einen Zungenschlag, der die Kultur verdreht zeigt. Wer ist eigentlich reich, wer arm?
Als der Geiger und Jude Yehudi Menuhin in der Nachkriegszeit nach Celle kam, um sein Geigenspiel als versöhnliche Nahrung anzubieten, war der einzige warme Ort mit Platz für viele Menschen - das Landgestüt. Die Pferdekörper machten es möglich.
Aus den Dörfern des Landkreises machten sie sich tagsüber auf, weiter aus Gifhorn, aus Soltau. Meine Mutter erzählte von Menschen, die sich aus dem zerstörten Hannover morgens mit dem Fahrrad auf den Weg machten, um in einer der Stallgassen - vielleicht - noch Platz zu finden. Um den jüdischen Geiger zu hören, seine Wundergeige und Johann Sebastian Bachs Partiten für Violine solo.
Es wurde von den sitzenden und den noch viel zahlreicher stehenden Zuhörern meist nach innen geweint, mehr nach außen sichtbar. Immer jedoch unhörbar. Die Geige Menuhins schluckte Tränen und Wunden der Hörenden. Jedenfalls vorübergehend. Oft genug nachhaltig.
Wer war da warm und wer war reich und gab von seinem reichen Tische ab? Honorar damals: Die Hörer, die Briketts hatten, sollten eines mitbringen für die Zuhörenden, die zuhause froren.
Die Philosophin Elisabeth von Thadden wurde kürzlich gefragt, was sie denn – wo wegen Corona Berührungen (mit wenigen Ausnahmen) verboten sei – stattdessen empfehlen würde. Ihre Antwort: Musik.
„Die Forschung“ um Künste und Musik weiß längst: Musik provoziert in unserem Körper ähnliche Reize wie körperliche Berührung. Musik kann eben buchstäblich „unter die Haut gehen“, sie „ergreift“. Über „pilare Erektionen“ schrieb ich hier schon (Gänsehaut u.a. Reaktionen). Und was antworten die Menschen in den meisten Kulturnationen, wenn sie Musik hören, die sie besonders positiv beschäftigt? Diese Musik berührt mich!
Die Biosozialwissenschaften erinnern: Berührungen sind - zunächst - dazu da, dass sich der Mensch vergewissern kann, dass er lebt. Musikhören und Musikspielen sind Berührungs-Brücken über jede Corona- Abstandsregel hinweg.
Notzeiten sind nicht vergleichbar. Es muss auch nicht die Musik Bachs oder einer ihrer Großkünstler sein. Die Sommermusikakademie in Oldenstadt, Pop in der Jabelmann-Halle, Fräulein Rika und ihr Swing Bubi im Neuen Schauspielhäuschen oder Kirchenleute, die auf der Straße singen oder Nachbarn, die von Balkons tönen – sie alle ernähren Menschen in Notzeiten. Ihre Unterhaltung ist Unterhalt für den Hunger der Seelen.
Es braucht viel mehr Tante Ulrikes und viel mehr Gelder. - um den Künstlern zu danken. Für ihre Hilfe. Nicht nur umgekehrt.
14. Juli 2020