„Wir kriegen raus, wo Du wohnst!“   

Der Satz ist meistens eine Drohung und soll erpressen. Irgendwas. Irgendwen. Polizisten hören ihn zunehmend, wenn sie Menschen festnehmen, die sich wehren. Zivilisten hören ihn ebenso – wie mein mir nächster Nachbar Alexander zum Beispiel. Der tankte an einer Tankstelle in der hintersten Provinz, bezahlte und beim Herauskommen sieht er zwei Menschen an seinem Wagen warten, von denen der eine sagt: „Haste was Bares für uns“? Alexander gab beiden was. Es war nicht genug. „Zwei Hunnis, wir wissen, dass du sie hast!“ Als Alexander den Kopf schüttelte, fiel der Satz: „Wir kriegen raus, wo du wohnst!“

Heute, im Zeitalter von Corona, heißt es ganz anders: „Ich weiß, WIE Du wohnst!“ Völlig ohne Drohung, vielmehr kollegial öffnet Corona uns wegen des Home-Office durch die in den Smartphones und Laptops zuschalteten Kameras Einblicke in vorher ungeahnte private Räume. Überraschende Einblicke.

Ich weiß jetzt, dass das private Arbeitszimmer meines eleganten Kollegen in Hamburg aus einer Schrankwand mit Aktenreihen besteht. Das reinste Finanzamt. Ich kenne inzwischen die Wohnzimmerecke eines (Landes-) Ministers mitsamt Familienfotos im Silberrahmen. Ich weiß, dass neben dem Schreibtisch unserer Sachbearbeiterin die Wiege mit dem zweiten Enkelkind steht und an der einen Wand einer Kollegin an der Universität in St.Petersburg hängt eine der Tänzerinnen von Edgar Degas. Oder Toulouse-Lautrec. Gegenüber hängt sie selbst. Noch größer. Denn aufgrebrezelt ist sie eine  Schönheit. Eines Virologen-Arbeitszimmer  habe ich nun auch in der Sammlung: klassische Bibliothekswand mit den üblichen Schinken vom ICD 10, DSM…und natürlich seine fachmedizinischen Schinken mit all den bekannten Viren drin. Sowie eine ziemlich künstlerisch belegte Schreibtischplatte. Will sagen, Richtung chaotisch.

Corona macht`s möglich, diese Blicke in die Räume, nicht nur WO, sondern WIE wir  wohnen.

Bei diesem Rückzug der arbeitenden Schicht der Bevölkerung vor die in die Laptops eingebauten Kameras sehen wir uns selbst bescheiden klein im Monitor und die Kollegen, Mitarbeiter, Studenten in den Sitzungen, Seminaren, Konferenzen ganz groß. Manche Hintergründe sind verwirrend, familiär, unfreiwillig. Tatjana z. B., noch weiter weg im russischen Orenburg, zeigt eine Grünpflanze über ihrem Haupt, als wenn sie eine grüne Perücke tragen würde. Ihr Sohn übt nebenan Klarinette. Weiß er, dass die Welt ihn hört?

 „Können Sie nicht auch mal Klavierspielen?“ Die Frage mitten in einem Online-Vortrag über den Umgang mit Ängsten in Corona Zeiten zeigt mir: Ich muss schleunigst umräumen. Das Klavier in meinem Hintergrund muss weg, die Puppensammlung vom alten Neuen Schauspielhaus von Reinhard Schamuhn (anstelle Honorars) auch. Der große Brockhaus bleibt. Das noch größere Bild von der nackten Maya von Goya wird verhüllt. Oder doch nicht?

02. Juni 2020

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