Evangelische Stimmen, Nr. 6, Juni 2016

 

Vom Haken mit dem Kreuz

Jendris Alwast über das Buch von Hans-Helmut Decker-Voigt

 

Dr. Dr. Jendris Alwast ist promovierter Theologe und Philosoph, hat auch Germanistik, Geschichte und Soziologie studiert. U. a. hielt er 2015 einen Vortrag in der EZB in Frankfurt am Main über die „Legitimation Europas". Im Blick auf 2017 gilt seine Aufmerksamkeit derzeit dem Durchprüfen möglicher Synergiebünde­lungen traditioneller Bestände von Theologie, Philosophie und Kunst im Fokus eines breit aufgestellten und dialogisch belebten Protestantismus.

 

Der folgende Beitrag ist die Ergänzung eines Beitrages über die Roman-Trilogie von Decker-Voigt „Das Pfarrhaus“, der in den Evangelischen Stimmen im September 2015 erschien, (red.)

 

Mit dem dritten Band seiner Roman-Trilogie „Vom Haken mit dem Kreuz“ (2016), der Folgeerzählung zum „Das Pfarrhaus“ I + II (2015) thematisiert Hans-Helmut Decker-Voigt das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte. Sinnfällig die Covergestaltung des neuen Bandes: Im Braunton die Koloratur des Systems, dann die Titel-Chiffre, die im Wortspiel Haken mit Kreuz verbindet, an dem jener scheiternd sich „verhakt“, weiter der Fragehinweis als was sich das „Dritte Reich“ in Wahrheit erwies, nämlich als „Kasperletheater mit Herrn Hitler“. Schließlich verdeutlicht das Hochzeitsfoto mit Braut, Offizier, Pastor und Blumenkind, wie gleichwohl gelebt wurde.

Der Roman öffnet den Blick für die Situation der evangelischen Kirche im „Dritten Reich“, deren opportune Mentalität eines Nationalprotestantismus die willfährige Öffnung dem völkischen Programm des neuen Rechtstotalitarismus gegenüber begünstigte. Die innerkirchlichen Konflikte zwischen den nationalsozialistisch infizierten „Deutschen Christen“ und den „Bekennern“ boten ein Bild heilloser Zerrissenheit. In dieser kirchlichen Bruch-Situation bezieht der Protagonist Pastor Georg Wilhelm Vogintius Position. Er wählt die exponierte Stellung eines Obmannes der „Bekennergruppe“ und damit, im Blick auf Gestapozugriffe, die mögliche Gefährdung auch seiner Familie. Das Leben müht sich durch die stickige Atmosphäre systemgewollter und -praktizierter Unsicherheit, genährt von Gerüchten, Halbwahrheiten, Verdrehungen, glatten Lügen, staatlicher Gewalt.

Brüche allenthalben. „Reichskristallnacht“ - eine euphemistische Verdrehung von Mord und Totschlag, aber in Wahrheit ein Pogrom und eine politisch inszenierte Erprobung der gesellschaftlichen Verrohung, von Bereitschaft für Gewalt und Kriegstauglichkeit. Zivilisationsbruch des „Dritten Reiches“. Bruch auch in der Familie. Ein Sohn, Marineoffizier, zeigt sich anfällig für den Führerkult. Aber schwerer und tiefer als die Verirrung des Sohnes greift der Ehebruch des Protagonisten, der den Vertrauensbruch nach sich zieht und zur Glaubenskrise sich auswächst, die den Sinnbruch meldet. Suizid der Geliebten. In der Selbstanklage das Schuldeingeständnis in dramatischer Selbstzerlegung. Im Zusammenbruch stürzt der Protagonist in das Elend seiner zerspaltenen Realität. Oder holt sie ihn ein? Der Autor lässt alles in produktiver Schwebe. Und „Christus“, zu dem bisweilen dialogische Nähe gelang? „Christus“ schweigt. Er meldet sich aber erneut, als der Protagonist ernst macht und seine Selbstabrechnung den tiefsten Punkt des Schmerzes wagt. In der Um-kehr meldet sich diesem ein neues Realitätsbewusstsein für das Brüchige in den Brüchen. Ihm wird die existentielle Gesamtlage klar. „Christus“, der Garant von Wirklichkeit und Sinn. Was aus den Fugen geraten war, fügt sich wieder, aber anders. Das narrative Kürzel „kristallklar“, das in vier Kapitelüberschriften des Textes den Leser zum Kern begleitet, signifiziert eine erschließende Bedeutungsgeschichte. Es ruft in die richtige Wahrnehmung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und es gibt das Erkennungszeichen für die aufrichtige Gesinnung, die im Handeln als aufrechter Gang auftritt.

Schlagartig und „kristallklar“ weiß der Protagonist, wie er sich zu stellen hat. Im Privaten seiner Ehe beginnt der langwierige Weg des Dialogs nach vorn im Knüpfen der Fäden, die das Netz eines neuen Vertrauens begründen. Im Politischen wird aus der anfänglichen Ablehnung des „Systems“ entschlossener Widerstand. Der Prediger wagt den entschiedenen Predigtton und wird Teil einer Widerstandsbewegung.

Andererseits zeigt die Routine des sozio-kulturellen Mechanismus im Pfarrhaus-Alltag Verlässlichkeit und gibt faktisch gelebte Orientierung nach innen wie außen, deren einfache Menschlichkeit als sein spezifischer Lebensausdruck ein irritierender Fremdkörper und per se ein produktives Ärgernis in der systematisierten Inhumanität des „Dritten Reiches“ bleibt.

Die auktoriale Erzählform des Werkes zeigt den Autor als „Spinne“, die alle Handlungsfäden aus einem immensen Quellenmaterial herausspinnt, sie zusammenhält und zu einem dichten, aber nirgendwo engenden Netz übersichtlich disponierter Beziehungen verknüpft. Das gelingt, weil der Autor die Tonarten der Lebensverhältnisse und Situationen beherrscht. Er spielt mit Konnotationen und generiert im Humor umgreifende Tiefe, wodurch er in seinen psychologischen und theologischen Deutungen, politischen Statements und alltagspraktischen Hinweisen jedwedes Verhältnis zurechtrückt auf Menschenmaß. Die Figuren und Situationen werden plastisch. Der Leser nimmt an ihrem Le ben mitfühlend teil. Es ist die Stilfigur der Synekdoche, die, inhaltlich wie textorganisatorisch, ihre produktionslogische Energie entfaltet und die Erzählsprache zu anschaulicher Allgemeinheit kultiviert. In dieser Vermittlunsleistung ist auch die konzeptionelle Sinneinheit der drei Bände begründet, die insgesamt die Detailfülle integrativ zusammenführt und homogen ins Bild setzt. Der Text entrollt ein Bild sich stets neu erzeugender und gleichwohl prekär bleibender Dialogik. Am Kreuz, dem Symbol des Lebens, entlarvt sich das Kreuz mit den „Haken“ als Chiffre des Todes, als Todfeind des Dialogs. Das nekrophile System des „Dritten Reiches“ „verhakt“ sich im obsessiven Klammergriff seiner selbst.

Auf einer noch tieferen Ebene ruft das Werk in das Projekt „Humanum“, in dem Freiheit sich, dialogintensiv realisiert, mit Demut verbindet, die als Gleichklang des Gemüts Hochmut wie Kleinmut gleicherweise meidet. Freiheit und Demut realisieren die Energiepotentiale in der Sinngrund-Formel „...was Christum treibet“. Dieses Diktum Luthers, bibeltheologisch gemeint, reformuliert sich in dieser Erzählung als die existentielle Erinnerung an das, was im Menschen „treibt“ und ihn antreibt. Es ist das unverfügbar Immerseiende, der Sinn, den er sucht, wie auch das ihm Verfügbare, der Dialog, der prekär bleibt, aber humanoffensiv und initiatorisch sich fokussieren will und kann.

Es ist die narrative Erinnerung an Prinzip und Seinsgestalt des Protestantischen, an den gelebten „Christus“ im aufrechten Gang. „Vom Haken mit dem Kreuz“- das literarische Werk zum Reformationsjubiläum 2017.