Gute, alte Zeiten

     

Es gab sie wirklich: „Die gute alte Zeit“ als Formel, die sogar zum Sprichwort gerann: Unsere Ur – und Ur-Urgroßeltern umschrieben damit die Zeit 1871 bis 1914 als den bis dahin längsten Friedenszeitraum. Sie prägten diesen Literatur gewordenen Seufzer, als sie selbst älter und alt wurden und in den mitnichten nur Goldenen 20ern, in denen die meisten mißliche, miserable Verhältnisse aushalten mußten, die dann ein irdischer Führer zu beenden versprach. Man und frau, Oben und Unten flohen aber zu allen Zeiten in ihre Vergangenheit als Ort der Überschaubarkeit des Lebens, in dem ein Ei 3 und Eimer Heringe 10 Pfennig kosteten, die Kaiser freundlich waren und die vier Jahreszeiten noch ihre Namen verdienten.

In der Psychologie ist „Die gute alte Zeit“ eine Denkformel, die zur Überlebenstechnik beiträgt. Diese Denkformel arbeitet mit der positiven Seite unserer Kunst zur Verdrängung. Normalerweise beklagen wir, was an Schlimmem alles verdrängt werden muß, aber auch Verdrängung ist eine Kraft, die der liebe Gott mitsamt der ganzen Psychologie in seiner Schöpfung einplante. Denn mit „der guten alten Zeit“ verdrängen wir nicht nur das damals Schwere, Schmerzhafte, Kränkende – wir äußern damit auch unsere Meinungen und Wünsche an die Gegenwart und Zukunft (meinte schon ein Sigmund Freud). Alte Zeiten besser zu reden als sie je waren, ist grundsätzlich eine „Alterserscheinung“.Völker schreiben so ihre Geschichte, Gruppen feiern Jubiläen als Rückschau-Chance, Einzelne schreiben ihre Autobiographie
 

und ein Mensch im Altersheim erzählt jemand Zuhörensfähigem von früher – und alle gestalten mit den darin geäußerten Wünschen ihre Gegenwart und Zukunft und legen Hansaplast auf die verdrängten Schmerzen der Vergangenheit, so daß sich mit ihr versöhnen läßt.

Nach dem Millenium 2000 steigerte sich unser Sehnen nach früher bis hin zur Sehn-Suchterkrankung. „Nostalgie“ ist nicht nur ein Fremdwort dafür, sondern inzwischen eine psychiatrische Diagnose („Nostalgie-Syndrom“) für Ewiggestrige, die vergessen, das Ewige mit der Gegenwart und Zukunft zu verbinden.

Unser heutiges Überbetonen des Guten am Alten hat jedoch eine in dieser Dimension noch nie dagewesene Funktion: Die Angst vor der Frage, die inzwischen fast alle Wissenschaften und Künste beschäftigt:„Wie lebt der Mensch noch menschlich bei soviel Verschiebung seines Lebens in die virtuellen Welten?“ Die Abhängigkeit von Handy, Laptop, Playstation-Games und allmächtigem Internet schafft neue Götter.

„Wir gehn dahin und wandern/ von einem Jahr zum andern/ wir leben und gedeihen/ vom alten bis zum neuen“ singen wir mit Paul Gerhard. Er und Sigmund Freud sind damit einer Meinung: Der Blick in das Gute des Alten ist unsere Basis für die Zukunft auf der Nadelspitze der Gegenwart. Die einen frönen wieder Göttern, die anderen Gott.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
Silvester 2011