Da weinen nicht nur Hühner

     

„Aufgrund gesetzlicher Vorgaben dürfen wir in Zukunft an Hobby-Geflügelhalter keinen Impfstoff zur Verwendung durch den Tierhalter mehr abgeben,“ schreibt der für unsere Hühner zuständige Tierarzt. Genauer, weil wir keine Hühner halten: Der Tierarzt schrieb das an unseren Mann für unsere Eier, die ebenso im Sechser-Pack vor unserer Tür lagen wie seine Hühner sie legten: Pünktlich und verlässlich. Jahrelang.
Er, der Veterinär, müsse jetzt selbst zum Impfen kommen und das koste allerdings…
Der Eiermann kopierte das Schreiben, das für seinen dramatischen Inhalt ja nichts kann, der Tierarzt auch nicht, und schrieb per Hand darunter: „Aus diesem Grunde haben wir die Hühner abgegeben.“
Der Verlust an speziell diesen Eiern trifft nicht nur uns: Unsere dorfeigenen Eier sind so, dass der Gast, der sie mit bei uns verspeiste, von ihnen schwärmt, auf sie schwört. Manche unserer Gäste aus der großen Stadt sind süchtig danach gewesen wie wir. Süchtig nach dem Bewusstsein beim Frühstück: Ich esse hier ein Ei, das fast nebenan gelegt wurde. Freilaufend selbstredend. Ein Ei, dessen Huhn die Schwangerschaft in frischer Luft verlebte. Und in einem Gehege, an dem wir, die künftigen Verspeiser der Eier, nie vorbeigingen ohne freundlich-dankbare Worte an die Hühner, die mit unseren Eiern schwanger gingen.
Aus vorbei. Gesetzlich vorgeschrieben wird

 

Christine im Supermarkt nach Industrieeiern greifen. Selbst wenn der Markt die Eier von hiesigen Eiermännern und Eierfrauen im Regal führt – unser persönlicher Kontakt zu den Hühnern ist weg.

Die Gesetzeserfinder haben sicher ihre guten Gründe, d.h. sie werden schlechte haben, schlechte Erfahrungen beim Umgang mit Impfstoffen. Der Gesetzgeber hat auch gute Gründe, nein, schlechte, demnächst das Feuer im Kamin zu verbieten – es sei denn, man kauft diese teure Absaugtechnik. Der Gesetzgeber wird gute Gründe haben, nein, schlechte, demnächst meine Zahnbürste zu bestimmen: Ultraschall-Bürsten sind gründlicher als Elektrobürsten und diese gründlicher als der Zahnschrubber per Hand. Ein erster Krankenkassenvorstandvorsitzender plant die Vorschrift, die Zahn-Prophylaxe nur dann weiter zu zahlen, wenn wir ultraschallend bürsten.
Wir sind ein Vorschriftsstaat geworden. Mit Vorschriften, die nötig sind, weil wir nicht alle mit Impfstoffen für Hühner, mit  Feuerwerkskörpern für Silvester, mit Lautstärkereglern an der Musikanlage umgehen können.
Natürlich leben wir in einem freien Land. Frei von Diktaturen durch menschliche, nein, unmenschliche Diktatoren. Wir sind so frei, dass sich die Menge unserer Vorschriften als neue Form der Diktatur erweist. Selbstgemachte Diktatur.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
30. Oktober 2018