Mein Großvater Wilhelm verachtete Fußball. Überhaupt
alle Technik außerhalb der Technik des Denkens. Mein Vetter
Sebastian wurde als Ausgleich Fußballreporter. Ich versuche
meinen Ausgleich zu Großvaters Sport-Ignoranz hier.
Zu Großvaters Zeiten hieß er "König".
König Fußball. Heutzutage hat er Gott-Größe
erreicht, ab 9.6. zeigt er sich weltweit auf unserer runden,
gelassenen Mutter Erde, deren Symbol der Ball ohnehin schon
immer war. Genauer: Es ist nicht der Ball, den wir zum König
und heute gottähnlich gemacht haben, sondern derjenige,
der mit ihm siegt. Derjenige Spieler, der ihn so kunstvoll tritt,
dass er siegt, wird zu einer Gotthöhe erhoben wie wir es
mit den Sean Conneries und Julia Roberts unter den Schauspielern
nie machen, mit den Anne-Sophie Müttern und Brian Adams
unter den Musikern nicht und schon gar nicht mit den Politikern.
Es gab durchaus Zeiten, in denen wir (und andere vergangenen
und heutigen Völker) unsere politischen Führer gottähnlich
machten. Mit denen jedoch scheiterten und scheitern wir durchweg
im Jammer. Deshalb üben wir uns in sowohl führungsarmer
als auch religionsneutraler Demokratie, die uns die alten Götter
nahm.
Der Ersatz, die neuen Götter sind der Sport und seine Größten.
Der allergrößte ist der Fußball, der uns als
Volkssport alle erreicht - im Gegensatz zu den kleineren, weil
elitäreren Göttern des Reitsports, des Tennis. Sogar
Formel 1 mit seinen Schumacher-Meistern verblasst hinter unserer
Elf, die die übrigen Elfen dieser Erde besiegen könnte.
Einige Gründe für die Gotterhebung und Gottnähe
ab 9.6., dem WM-Beginn, der ja auch ohne Sieg über die
ganze Welt "unsere WM" ist:
Der Sport ist Kampf und Rivalität wie alles Leben,. Aber
es ist der einzige Kampf, bei dem die Kampfzeit begrenzt ist.
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Und während derer die Regeln weltweit und medial
weltkontrolliert streng eingehalten werden. Sport ist die einzige
Rivalität, die offiziell Fairness fordert. So denkt keine
Konzernspitze (mehr).
Sport und an erster Stelle Massen-Sport wie unser Fußballspiel
kultiviert als einziger Niederlage und Sieg, bei dem der Unterlegene
verschwindet hinter dem obersten Sieger. Als Zweiter geehrt
zu werden heißt eigentlich nur: Die Pflicht-Ehre des Mitspielers
zu bekommen, der zu Anfang noch die Chance des Siegers hatte.
In der Politik gewinnt der Unterlegene immerhin in der Opposition
einen verfassungsmäßigen gleichen Rang wie die Regierung
und bekommt (fast) dasselbe Geld wie sie.
Die antike Vorstellung von Glück war der "Sieg".
Denn Zwischenmenschliches ist immer in Gefahr, destruktiv zu
werden. Ein fair gewonnener Kampf nie. Im Sport ist gewonnene
Rivalität Trumpf und der darf offiziell genossen werden
als Ruhm und Ehre. Ruhm und Ehre dürfen im Sport sogar
von uns Deutschen gefühlt, genossen werden, die wir sonst
diese beiden Begriffe - zeigt bereits der preußische Offizier
von Clausewitz vor knapp 200 Jahren - negativ besetzen mit Ruhm-Sucht
und Ehr-Geiz. Das "Wunder von Bern" zeigte dieses
Glück, Ruhm und Ehre fühlen zu dürfen - inmitten
der Scham nach 1945.
Deshalb ist der siegende Fußballer inzwischen mehr als
König, ein Gott: An ihn dürfen wir uns hängen
mit unserer Sehnsucht danach, was sonst verboten ist und diese
Gefühle loslassen, die wir im Alltag unterdrücken.
In den Stadien dürfen wir sie ausbrüllen, in denen
wir ab 9.6. sitzen und mindestens bis zur Niederlage die Möglichkeit
des Siegs an unsere Fußballgötter heften. Mit ihrer
hohen Kunst des Balltretens, gegen die mein Großvater
so wetterte, weil er nicht nachgedacht hatte, für was der
Ball Symbol ist.
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