Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Ein Handy zu Weihnachten

Die (Werbe-) Zeichnung vor mir zeigt den Stall, die Krippe samt Hl. Familie drumherum und in einer Reihe die Hirten. Der letzte Hirte hält den Kopf ganz komisch, nämlich seitwärts, weg vom süßen Knaben im lockigen Haar. Der Grund: Er hält sein Handy an das Ohr…klein darunter die Handy-Firma mit dem Slogan "Überall erreichbar".
Nichts gegen Handys. Schließlich gehören auch sie zum Schöpfungsplan Gottes, Abteilung irdische Hochtechnologie. Und schließlich werden wir ohne Handy nicht unter der Schnee-Lawine gefunden, in die wir nach dem Fest gleich mit dem Handy fahren.
Erreichbarkeit ist Trumpf, an jedem Ort, zwischen Klo und Konzert. Womit ich bei der Kerngeschichte bin: Einer jener Situationen, die durch ein einsam bimmelndes Handy zum Trauma wurden. Jener Handy-Besitzer erlitt dies Trauma, dessen Handy in einer der ersten diesjährigen Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium Furore machte. Über 1000 Leute waren geströmt und (für über 60 Euro pro billigster Karte) in ihre erste tranceartige Weihnachts-Andacht gefallen, als der angebetete Star-Dirigent den Einsatz für die noch angebetetere Altistin und ihre Arie "Schlafe mein Liebster, genieße der Ruh…" gab. Und diese Arie planungsgemäß dem süßesten Schlafgesang für den Knaben im lockigen Haar in der Philharmonie die Schwingung für Töne und Seele verlieh. Es war beim Pianoschritt des vibrierenden "c" zum tieferen "h" - da geschah es: Sein Handy bimmelte. Ebenso einsam wie laut und als Klingelmelodie zog sich die Melodie von Beethovens "Für Elise" in die erstarrten Seelen.

Der am Christkind und nicht an Elise orientierte Saal verfiel in kollektive Lähmung. Der Dirigent fasste sich als erster, hob erneut den Taktstock und wiederholte, was vor ihm schon mal ein berühmtes Taktstockgenie in der Münchner Philharmonie getan hatte: Er drehte sich um und dirigierte weiter. Aber mit dem Rücken zu Orchester und Solisten, minutenlang dirigierte er, indem er mit dem Taktstock das Publikum mit seinem Täter seziert…" Futsch war er, der Genuss, und noch mehr die Ruhe.
Unsere totale Erreichbarkeit führt inzwischen weg von der altmodischen einleitenden Festnetz-Telefonfrage: "Wie geht es dir?" hin zum "Wo bist du?".
Damit wir nicht mitten in der Adrenalin-Ausschüttungsphase antworten müssen "Im Konzert" oder "In der entscheidenden Verhandlung" oder "Mitten im Liebesleben" - braucht es eine Regelung wie in manchen Gottesdiensten des Wilden Westens: Da mussten alle Cowboys ihre Revolver vorher in die Regentonne legen. Damit nichts passiert. Hinterher bekamen sie sie wieder.
Solch eine vorübergehende Enthaltsamkeit brauchen wir bei der Kommunikationswaffe Handy. Zur Kultur der totalen Erreichbarkeit sollten wir uns eine Kultur der Unerreichbarkeit schenken.
Denn was sollte der Hirte an der Krippe Jesu in jener Handy-Werbung antworten? "Tut mir leid, bin gerade in der Anbetung…"? Solch Schreckensphantasie hatten und haben die Kirchen in Angst um ihre letzten Rituale schon länger. Nur umgekehrt ist es nach einem alten Jesuitenwitz erlaubt. Beim langweiligen Telefonat zu beten…oder beim Rauchen…oder beim guten Schluck…

(29. November 2005)

Den Autor erreichen Sie unter: Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de